„Der zerbrochne Krug“ von Kleist im Schauspielhaus Stuttgart – 13.12.2014
Foto: Bettina Stöss
„Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Was ist mit Euch geschehn? Wie seht Ihr aus?“ Mit diesen Worten des Gerichtsschreibers Licht (den Thomas Lawinky sehr farbenreich verkörpert) beginnt dieses berühmte Lustspiel von Heinrich von Kleist, das der einfallsreiche Regisseur Jan Bosse in die heutige Zeit übertragen hat. Denn in Huisum bei Utrecht ist ein Krug in die Brüche gegangen. Resolut stellt Franziska Walser Frau Marthe Rull dar, die davon überzeugt ist, dass Ruprecht Tümpel (furios: Matti Krause) – der unbeherrschte Sohn des Bauern Veit Tümpel (bodenständig: Boris Burgstaller) – der böse Bube und Übeltäter ist, der den Krug zerbrochen hat. Als Bräutigam kommt er für die in Rage geratene Mutter deswegen kaum noch in Frage. Mit ihrer Tochter Eve (wandlungsfähig: Svenja Liesau) erscheint sie vor Gericht, wo der Dorfrichter Adam (den Edgar Selge als Tolpatsch spielt) dem Schuldigen den Prozess machen soll. Im Foyer ist es allerdings noch vor der Aufführung zu einem peinlichen Zwischenfall gekommen, den Jan Bosse genüsslich ausbreitet. Dorfrichter Adam steht hier nämlich gänzlich ohne Kleider da – nur der Schreiber Licht bedeckt im äussersten Notfall seine Scham. Unweigerlich denkt man dabei sogar an das Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“. Das Publikum amüsierte sich jedenfalls köstlich und kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Jan Bosse treibt das Lustspiel als raffinierte Satire auf die Spitze. Eifrig wird der Frage nachgegangen, woher Richter Adams Verletzungen stammen. Zunächst sitzt Frau Marthe Rull mit ihrer Tochter im Zuschauerraum und geifert das Hohe Gericht unablässig an. Auch der Perücke Adams ist man auf der Spur, die schließlich ebenfalls im Gerichtssaal auftaucht. Die Frage, wer der unbekannte Rivale war, den Ruprecht bei Eve überrascht hat, wird zunächst nicht geklärt. Und die Komplikationen und Verwicklungen nehmen in Jan Bosses Inszenierung immer groteskere Züge an. Für Jean-Pierre Cornu ist der Gerichtsrat Walter eine Paraderolle, er kann seine Macht über den im Grunde genommen recht einfältigen Dorfrichter Adam immer wieder voll ausspielen: „Ihr seid sehr nachsichtsvoll, Herr Richter Adam, sehr mild, in allem, was die Jungfer angeht.“ Bald hat der verschlagene und auch zuweilen recht cholerische Walter den Richter ganz in der Hand. Der Gerichtsrat hat keine schlechten Karten: Er gerät auf seiner Inspektionsreise ausgerechnet in den Gerichtstag und versucht den drohenden Zerfall des Prozesses mit Erfolg aufzuhalten. Die elektrisierende Spannungskurve steigt so immer weiter und weiter – bis schließlich aufgrund der verzweifelten Aussage des Mädchens Eve herauskommt, dass Dorfrichter Adam selbst den Krug zerbrochen hat, als er Eve in der Kammer bedrängt hat: „Um es mir auszufertigen, schlich er in mein Zimmer, so Schändliches, ihr Herren, von mir fordernd, dass es kein Mädchenmund wagt auszusprechen.“ In diesem Augenblick erleidet deren Verlobter Ruprecht einen Tobsuchtsanfall, es kommt im Gerichtssal zu einem ungeheuren Tumult – Ruprecht schlägt alles kurz und klein, verfolgt den fliehenden Richter Adam.
Stuttgarter Fahnen geben diesem seltsamen Prozess auf der Bühne einen aktuellen Bezug. Es ist ein großes Plus dieser sehr lebendigen Aufführung, dass die Zuschauer hier zu unmittelbaren Zeugen des Geschehens werden. Katharina Knap als Frau Brigitte brilliert mit konzentriertem Spiel – sie überführt den ertappten Dorfrichter darüber hinaus mit zielgerichteter Präzision. Zuletzt ist die Laufbahn des Dorfrichters zu Ende, der Gerichtsrat setzt den Schreiber Licht zu seinem Nachfolger ein. Walter will jedoch das Äusserste bei der Bestrafung Adams verhindern, wenn er die Kassen in Ordnung findet. Nach dem Schlusapplaus kommt Frau Marthe Rull bei der Inszenierung nochmals auf die Bühne, will bei der Regierung in Utrecht um den zerbrochenen Krug klagen – und wird vom Gerichtsrat Walter ziemlich unwirsch von der Bühne getrieben. Da fällt der Vorhang dann zum zweiten Mal.
Psychologische Höhepunkte der Inszenierung von Jan Bosse sind die hintersinnigen Szenen zwischen dem Gerichtsrat Walter und dem Dorfrichter Adam, der diesen auch mal in den Arm nimmt, um ihn dann umso brutaler von sich zu stoßen. Die Justiz wird hierbei in all ihrer erbarmungslosen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit entlarvt. Auch in dieser modernen Fassung blitzen die heimlichen Bezüge zu „König Ödipus“ von Sophokles auf. Adam versucht seine Schuld mit Durchtriebenheit zu vertuschen. Das niederländische Milieu wird von Jan Bosse sarkastisch auf die Schippe genommen, vor allem Frau Marthe Rull in der Gestaltung von Franziska Walser gefällt aufgrund ihrer unglaublichen Schlagfertigkeit. Gerichtsrat Walter und Dorfrichter Adam verwirren das Publikum – der eine sagt, die Leute sollen den Saal verlassen und der andere fordert das Gegenteil. Auch die anderen Protagonisten machen den Zuschauerraum wiederholt unsicher – dies gilt auch für den stets außer Rand und Band geratenen Ruprecht. Die weiträumige Bühne von Stephane Laimé und die unserer Zeit angepassten Kostüme von Kathrin Plath (Dramaturgie: Gabriella Bußacker) machen diese Gerichtsszene zu einem teilweise infernalischen, aber auch sehr humorvollen Tribunal, das den Zuschauern sehr gefiel. In der Mitte des Saales ist ein großer Spiegel zu sehen, der die Größe des Zuschauerraums frei gibt. Richter, Gerichtsrat und Schreiber sprechen unablässig in übersteuerte Mikrofone. Zuweilen nimmt das Ganze Züge einer überdrehten RTL-Show an – vor allem wenn Boris Burgstaller als Veit Tümpel die Gerichtstür in einem Wutanfall zertrümmert. Sein weinender Sohn kann nur noch vor ihm flüchten. Mit Hilfe eines Dia-Projektors erklärt Frau Marthe Rull dem verblüfften Dorfrichter, in wie viele Einzelteile der Krug zerlegt worden ist. Zuletzt geht er dann noch einmal in die Brüche und muss mit einem Besen aufgekehrt werden.
Den Lachsalven des Publikums folgte orkanartiger Schlussbeifall.