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STUTTGART/ Schauspielhaus: DER GUTE MENSCH VON SEZUAN von Berthold Brecht. Premiere

15.10.2022 | Allgemein, Theater

Premiere „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht am 15.10.2022 im Schauspielhaus/STUTTGART

Eine komplexe Doppelrolle

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Paula Skorupa. Foto: David Baltzer

„Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?“ fragt die Prostituierte Shen Te. Das hat aktuelle Bezüge. Drei Götter steigen auf die Erde hinab und einigen sich auf einen Minimalkonsens. Denn die Verhältnisse können so bleiben, wie sie sind, wenn genügend gute Menschen gefunden werden. Ein menschenwürdiges Dasein soll im Mittelpunkt stehen. Der Prostituierten Shen Te geben die Götter ein Startkapital, um einen Tabakladen zu eröffnen. Shen Te erfindet ihren skrupellosen Vetter Shui Ta, der eine Tabakfabrik gründet, in der Angestellte unter unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen.

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Michael Stiller, Gabriele Hintermaier, Peer Oscar Musinowski, Paula Skorupa, Evgenia Dodina. Foto: David Baltzer

Paula Skorupa gelingt es als Shen Te und Shui Ta, der zwiespältigen Doppelrolle mit darstellerischem Geschick gerecht zu werden. Shen Te hindert den stellungslosen Flieger Yang Sun, sich im Stadtpark aufzuhängen. Die beiden verlieben sich. Und hier gelingt Tina Lanik in ihrer Inszenierung, den psychologischen Wandlungsprozess der Figuren glaubhaft über die Rampe zu bringen. Sun erfährt schließlich von dem Wasserverkäufer Wang, dass Shen Te ein Kind von ihm erwartet. Bühne und Kostüme von Stefan Hageneier unterstreichen das fast surrealistische Konzept der Regie mit starken Bildern. Sun ist über ihr Verschwinden aufgebracht und verlangt eine Hausdurchsuchung. Der Vetter Shui Ta wird verhaftet,  wobei sich der dramaturgische Spannungsbogen in der Inszenierung erheblich steigert.  Die Verhandlung wird von den Göttern geführt, die sich durch einen Trick die Richterstühle gesichert haben. Shui Ta erkennt die Götter: „Euer einstiger Befehl, gut zu sein und doch zu leben, zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften…Ach, eure Welt ist schwierig! Zu viel Not, zu viel Verzweiflung!“ Und die Götter reagieren ratlos: „Sollen wir eingestehen, dass unsere Gebote tödlich sind?“ Sie lassen die schwangere und hilflose Shen Te verzweifelt zurück. Es scheint keinen Ausweg zu geben. Und der offene Schluss will die Zuschauer zwingen, konsequent weiterzudenken: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehr betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen…“ Assoziationen zum „Literarischen Quartett“ mit dem Fernsehkritiker und Literaturpapst  Marcel Reich-Ranicki tun sich auf.

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Michael Stiller, Paula Skorupa, Gabriele Hintermaier. Foto: David Baltzer

Überhaupt gibt es bei Tina Laniks Inszenierung durchaus satirische Übertreibungen und Zuspitzungen. Das Stück wurde im Jahre 1938 in Dänemark begonnen und 1940 in Schweden beendet. Eigentlich liegt Sezuan in China – doch bei Brecht ist es eine stilisierte Örtlichkeit. Das unterstreichen auch die anderen Darsteller in ihren fantasievollen Kostümen. Valentin Richter zeigt als Wasserverkäufer Wang komödiantisches Talent. Die drei Götter werden von Marietta Meguid, Noah Baraa Meskina und Reinhard Mahlberg mit erhabender Deutlichkeit, aber auch zuweilen stoischer Ruhe dargestellt. Eine köstliche Charakterstudie liefert Evgenia Dodina als Witwe Shin. Peer Oscar Musinowski überzeugt als exaltierter stellungsloser Flieger Yang Sun, während die wunderbar wandlungsfähige Gabriele Hintermaier als nervtötende Hausbesitzerin Mi Tzü, Frau Yang und Polizist brilliert. Michael Stiller überzeugt ferner als Schreiner Lin To, Barbier Shu Fu, Arbeitsloser und Kellner.

Etwas problematisch ist die technisch doch stark verfremdete Musik von Paul Dessau mit der Sezuan Electric Band (Jo Ambros, Eugen Aniskewitz, Tommy Baldu, Cornelius Borgolte, Lukas Brenner, Max Treutner, Clara Vetter, Martin Wiedmann und Lisa Wilhelm). Parlandoartige und psalmodierende Passagen wirken so stark verfremdet – und auch die kantablen Züge kommen etwas zu kurz. Tina Lanik gelingt es jedoch gut, den roten szenischen Faden dieses Parabelstücks durchzuhalten. So werden das Geldgeschenk der Götter, die Erfindung „Shui Ta“ im ersten Bild, der Vorschlag des Polizisten zu einer Geldheirat im zweiten Bild, Shen Tes Verliebtheit in Sun im dritten Bild, die Leihgabe des Teppichhändlerehepaars zur Mietvorauszahlung im vierten Bild sowie Shu Fus finanzielle Unterstützung im siebten Bild plastisch deutlich. Auch die geheimnisvolle Verknüpfung der legendenhaften Welt der Götter, die dunkle Welt der dramatischen Figuren in einer ärmlichen Vorstadt der Hauptstadt von Sezuan, die Träume Wangs und der starke Einbezug des Zuschauers macht Tina Lanik in ihrer Inszenierung immer wieder plastisch greifbar. So besitzt alles einen inneren Zusammenhang, der gegen Ende sogar noch an szenischer Stärke gewinnt. Die Entfremdung der Menschen voneinander zeichnet die Regisseurin eindrucksvoll nach. Einflüsse von Karl Marx zeigen sich deutlich bei der Darstellung der Produktionsverhältnisse in der Tabakfabrik und der Unterbringung der Arbeiter in menschenunwürdigen Behausungen. Die Korruption der Polizei, die Parodie auf die ohnmächtigen Götter und die Verelendung der Arbeitslosen werden bei dieser Regiearbeit ebenfalls immer wieder angedeutet. Eigentlich wollte Brecht, dass Shui Ta mit einer Maske auftritt, denn eine Frau soll hier ja eine Männerstimme imitieren. Doch die Inszenierung kommt dabei ohne Maske aus. Die Doppelrolle Shen Te und Shui Ta sagt eindeutig, dass man schlecht sein muss, um Gutes tun zu können. Das ist eine gesellschaftlich bedingte Paradoxie. Unterschiedliche Verhaltensweisen im Sinne des epischen Theaters werden dabei sichtbar. Und das leugnet Tina Lanik auch gar nicht. Paula Skorupa gelingt es, die Prostituierte Shen Te gleich zu Beginn als „Engel der Vorstädte“ erscheinen zu lassen, die als einzige die Götter aufnimmt und dafür belohnt wird. Sie verschenkt ihren Besitz und ist sogar zum Meineid bereit, um Wang zu helfen. Das offene Ende des Epilogs spricht ebenfalls eine deutliche Sprache: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!“ Shen Te ist unglücklich wie nie zuvor und weiß, dass sie nicht in dieser Stadt bleiben kann. Alles mündet in einen Appell zu einer gesellschaftsverändernden Praxis. Überwiegend Applaus, „Bravo“-Rufe für das gesamte Team. 

Alexander Walther

 

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