Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGART/ Schauspielhaus: AUGUST. OSAGE COUNTY, EINE FAMILIE von Tracy Letts. Premiere

07.02.2015 | Allgemein, Theater

SOMEWHERE OVER THE RAINBOW

Premiere von „August: Osage County. Eine Familie“ von Tracy Letts am 7. Februar 2015 im Schauspielhaus/STUTTGART

32974_august_osage_county_foto_bettinastoess_honorarfrei_1
Foto: Bettina Stoess

In der weiträumigen Inszenierung von Stephan Kimmig (Bühne: Oliver Helf) werden die Zuschauer in einem ehemals stattlichen Landsitz im Mittleren Westen der USA Zeuge, wie der von Elmar Roloff wie eine Geistererscheinung gemimte Schriftsteller und Hochschullehrer Beverly Weston plötzlich spurlos verschwindet. Wenig später erfährt man dann, dass er sich umgebracht hat, denn seine aufgedunsene und von Fischen angefressene Leiche wird im Fluss gefunden. Seine von Astrid Meyerfeldt brillant gespielte Frau Violet bleibt mit ihrer Krebserkrankung, ihrer Tablettensucht und mit der Haushaltshilfe Johnna (facettenreich: Marietta Meguid) alleine zurück. Ihre Familie versichert ihr allerdings: „Du bist unsere Mum und wir lieben dich!“ Aber dies nützt Violet nicht viel, sie rebelliert fanatisch gegen ihre Umwelt, was zu einer Eskalation bei der Beerdigungsfeier für den verstorbenen Beverly Weston führt. Dies ist die stärkste Szene bei dieser Regiearbeit.

Der Familienclan mit Schwester, Töchtern, Schwiegersöhnen und dem Enkelkind versucht der Kranken an der riesigen Speisetafel beizustehen, was aber misslingt. Violet lässt sich nicht beruhigen. Sie sorgt sich vor allem um ihre Rolle als Familienoberhaupt, die sie durchaus herrisch verteidigt. Bei diesem Zusammentreffen setzt sich Violet geradezu bösartig in Szene, was der Regisseur Stephan Kimmig drastisch herausstellt. Die drei Schwestern, die sich mit ihren Pflichten herumschlagen, erinnern hier sehr stark an Anton Tschechows „Drei Schwestern“ Olga, Mascha und Irina. Astrid Meyerfeldt macht als Violet bei dieser Paraderolle in eindrucksvoller Weise deutlich, wie diese Figur zwischen Delirium, Weinkrämpfen und Grausamkeit hin- und herschwankt. Elemente der schwarzen Komödie und der an T.S. Eliots Vorbild geschulten amerikanischen Erzähltradition blitzen dabei grell hervor. Die Auseinandersetzungen mit ihrer von Anja Schneider überzeugend gespielten Tochter Barbara spitzen sich immer mehr zu und führen schließlich zum völligen Zusammenbruch Violets: „Ja, ich hab Schmerzen. Ich habe…Krebs. In meinem Mund. Und es brennt wie ein…Scheißdreck. Außerdem ist Beverly verschwunden, und du schreist mich an.“ Zuletzt gibt sich Violet aber auch selbst wieder Mut und bestärkt sich, dass sie es schaffen wird. Diese berührende Schluss-Szene meistert Astrid Meyerfeldt souverän. Ein weiterer Schwerpunkt dieser durchaus spannungsvollen Inszenierung liegt auf der inzestuösen Liebesbeziehung von Little Charles Aiken mit Ivy Weston, den Sebastian Röhrle in seiner ganzen Hilflosigkeit verkörpert, denn er wird von seiner von Rahel Ohm mit grausamer Gleichgültigkeit gemimten Mutter Mattie Fae Aiken immer wieder als „Flasche“ bezeichnet, wogegen der Vater Charlie Aiken (prägnant: Elmar Roloff) energisch protestiert. Sandra Gerling als Ivy Weston stemmt sich hier verzweifelt gegen ihr Schicksal: „Ich lasse nicht zu, dass ihr mir das antut!“ Sie hat nicht gewusst, dass Little Charles ihr Bruder ist, den Mattie Fae Aiken mit Beverly Weston zeugte. Regisseur Stephan Kimmig legt ganz bewusst einen geheimnisvollen Schleier über die Handlung, der berühmte Song „Somewhere over the rainbow“ klingt seltsam schräg und besitzt gespenstische Hall-Effekte, als sich das weiträumige Haus mit seinen vielen Etagen immer wieder von neuem dreht und die Menschen in ihrer ganzen Rat- und Hilflosigkeit sichtbar macht. Dazu gehören auch Barbara und Bill Fordham (undurchsichtig: Michael Stiller), deren Ehe zerbricht. An der Bühnenrampe wird ein Mikrophon sichtbar, das von den Darstellern wiederholt benutzt wird – nicht nur, um sich besser zu artikulieren, sondern auch, um Forderungen laut und unter Protest geltend zu machen. Dadurch steigen aber auch die Spannungskurven dieser insgesamt gelungenen Inszenierung (Kostüme: Johanna Pfau). Der „American way of life“ wird bei der Aufführung gnadenlos zertrümmert.

33039_august_fotobettina_stoess_hp2august81
Foto: Bettina Stoess

Die Musik von Michael Verhovec bringt immer wieder Video-Einblendungen von Auftritten diverser US-Rock-Größen, die Astrid Meyerfeldt in köstlicher Weise persifliert. Da gelingt es ihr großartig, die gesamte Bühne auszufüllen. Sehr präsent und unmittelbar spielt Birgit Unterweger eine weitere Tochter Violets, Karen Weston, die mit ihrer kranken Mutter und der obskuren Beziehung zu Steve Heidebrecht (souverän, aber auch zurückhaltend: Horst Kotterba) ebenfalls nicht fertig wird. Steve wird schließlich sogar der Vergewaltigung von Jean Fordham (explosiv: Svenja Liesau) beschuldigt und von Karen Weston und der „Indianerin“ Johnna Monevata verprügelt. Bei diesen Szenen wird die Luft extrem dünn, die Bühne macht menschliche Abgründe sichtbar. Stephan Kimmig arbeitet dabei ständig mit Video-Einblendungen aus hoher Perspektive, die dem Zuschauer ein neues und anderes Raumgefühl vermitteln und somit die Schauspielerinnen und Schauspieler visuell wesentlich näher bringen. Die ungeahnten Möglichkeiten des Regietheaters werden so gut ausgelotet. Gelegentlich enthüllen sich in mystischen Visionen ganz im Sinne T.S. Eliots die Brachlandschaften der Seele des keiner Bindung und keines Glaubens mehr fähigen Gegenwartsmenschen. Tracy Letts, der diese Familiengeschichte selbst als besonders schwieriges Werk bezeichnet, lässt im Stück verkünden: „Wir wiessen, dass jeder von uns für sich krepiert, und wir gehen davon aus, dass die Welt sich auch ohne uns dreht. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Wenn jemand stirbt…vielleicht stirbt ja dann alles, jeder und alles und nur ein Nichts bleibt übrig, ein Hohlraum. (Oder Geister. Geister wären ein Trost.)…“ Diese wichtige Erkenntnis hat Stephan Kimmig bei seiner Inszenierung konsequent umgesetzt. Der Geist des toten Beverly Weston spukt hier herum, scheint die Protagonisten zu tyrannisieren und sogar teilweis um den Verstand zu bringen. Lichteffekte (Gregor Roth) beleuchten trostlos die fahlen weißen Wände, man wird gezwungen, sich auf den Gesichtsausdruck von Astrid Meyerfeldt zu konzentrieren, die auch aufgrund ihrer herausragenden darstellerischen Qualitäten zur alles beherrschenden Person wird. Robert Kuchenbuch als Sheriff Deon Gilbeau sticht als weiterer Darsteller aus diesem hervorragenden Schauspielensemble heraus, das sich im Laufe dieses Abends stets steigert. Stephan Kimmig will deutlich machen, wie diese seltsame Familie an den Ort der Kindheit und ins Haus der Eltern zurückkehrt. Was früher Heimat war, ist jetzt ein abweisendes Gemäuer. Die Mutter quält sich durch diesen Familien-Sarkophag zu melancholischen Fetzen von Country-Musik. Ein Glutofen der Gefühle befindet sich hinter dunkel verhängten Fenstern. Vielleicht könnte man filmische Effekte bei dieser Inszenierung sogar noch präziser herausarbeiten. Die traurigen Weiten der Prärie machen hier Platz für ein letztes Aufbäumen. Drei Generationen liefern sich eine endgültige Schlacht, alles mündet in Verwüstung und Einsamkeit. Doch ein Fünkchen Hoffnung bleibt. Der Autor Tracy Letts wurde 1965 geboren. Nach jahrelangem Drogenmissbrauch konnte sich Letts ohne Ausbildung als Schauspieler und Dramatiker etablieren. Für das Stück „August: Osage County. Eine Familie“ erhielt er den Pulitzer-Preis und den Tony Award. 2013 wurde das Theaterstück in Hollywood verfilmt. Für diese Premiere gab es begeisterten Publikumsapplaus.    

 Alexander Walther               

 

Diese Seite drucken