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STUTTGART / Schauspielhaus: „1984“ von George Orwell- Premiere

Blick in die Apokalypse

27.05.2018 | Allgemein, Theater


Thiemo Schwarz, Lea Ruckfeld, Christian Friedel, Wolfgang Michalek, Rahel Ohm, Aline Blum. Copyright: Thomas Aurin

STUTTGART/ Schauspielhaus: „1984“ von George Orwell am 27. Mai 2018

BLICK IN DIE APOKALYPSE

„Sie hatten Unrecht und er hatte Recht. Die stoffliche Welt existiert nicht, ihre Gesetze ändern sich nicht, Steine sind hart, Wasser ist nass, Objekte stürzen dem Erdmittelpunkt zu“, heißt es in George Orwells 1948 entstandenem utopischen Roman „1984“.

Armin Petras hat als Regisseur eine Theaterfassung dieses Romans geschrieben. Er richtet seinen Blick in eine Zukunft, die teilweise unsere Gegenwart und teilweise apokalyptisch ist. Die Natur ist jetzt weitgehend zerstört, man sieht im schwarzen Halbrund (Bühne: Olaf Altmann; Kostüme: Annette Riedel) einen kegelförmigen Trichter, der den Menschen einfach übergestülpt wird – ob sie wollen oder nicht. Tiere erscheinen den Protagonisten wie visionäre Erscheinungen, die sich nicht vertreiben lassen. Die Erde ist plötzlich zur Wüste geworden. Lea Ruckpaul spielt mit explosiver Wandlungsfähigkeit Julia im goldglitzernden Kostüm, die der von Robert Kuchenbuch subtil verkörperte Winston Smith kennen- und lieben lernt. Sie ist hier nicht mehr Angestellte der Romanabteilung, sondern Traumdesignerin. So erhält sie Zugang zu den Gehirnen und zum Hypernetz.


Christian Friedel, Robert Kuchenbuch. Copyright: Thomas Aurin

Diese moderne Welt wird plötzlich nur noch von computerhaften Maschinen beherrscht. Und die Diktatoren haben sich in Clowns verwandelt. Zwielichtige Entertainer beherrschen die Szenerie, die Band „Woods of Birnam“ mit Christian Friedel (Gesang, Keyboard), Christina Grochau (Schlagzeug), Philipp Makolies (Gitarre) und Uwe Pasora (Bass) heizt dem Publikum dabei immer wieder mächtig ein. Sie steigen mit Königskrone in die Zuschauerreihen des Publikums (musikalische Leitung: Christian Friedel; Liedtexte: Ludwig Bauer).

Im Orwell-Staat Ozeanien wird gleichzeitig eine neue Sprache verordnet, um den Menschen das Denken abzugewöhnen. Es entsteht so ein sogenannter „Neusprech“. Das „Liebesministerium“ bringt den Abtrünnigen die Liebe zum „Großen Bruder“ bei, während das „Friedensministerium“ Kriegseinsätze plant. Und im „Ministerium für Wahrheit“ werden einfach die Gehirne manipuliert. Was falsch ist, wird zur Wahrheit. Wolfgang Michalek mimt völlig unkontrollierbar den Chefinquisitor O’Brien, der den „Neusprech“ zelebriert. Inmitten dieser unmenschlichen Welt beginnt Winston damit, ein Buch zu schreiben, das zum Widerstand aufruft. Es ist eine Botschaft an die Zukunft und an die Ungeborenen. Winston wird dadurch zum Gedankenverbrecher, der bereits tot ist. Orwells Roman kritisiert Stalinismus und Nationalsozialismus gleichermaßen, was auch in Armin Petras‘ Inszenierung deutlich wird. Nicht immer gelingt es dem Regisseur allerdings, das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den Personen zu entwirren. Das Prinzip des Führerkults eskaliert in erschreckender Weise in der Auseinandersetzung O’Briens mit Winston, den er in schrecklicher Weise foltert und seelisch zerstört: „Ich verstehe mich selber nicht!“ Er kann nur noch durch Julia gerettet werden. Die weiteren Personen der Handlung bleiben eher blass und schemenhaft, was auch für Christian Friedel als Brother/Charrington gilt. Cathleen Baumann als Frau Parsons, Thiemo Schwarz als Parsons, Anastasia Harms, Malte Harrach, Yann Levithin als Kinder der Parsons, Andrei Viorel Tacu als Ampleforth, Rahel Ohm als Fem Proles und Aline Blum als einsames Mädchen bewegen sich geisterhaft auf der Drehbühne mit ihren ständig hochgezogenen Staffagen. Die ganze Szenerie wirkt immer unwirklicher und grotesker, da kommt kein richtiges Leben auf.

Da kann auch die Choreografie von Denis „Koone“ Kuhnert wenig helfen. Gleichschaltung und Schausprozesse beherrschen in schockierender Weise das Zentrum. Im Feuerschein sieht man auch einen Rollstuhlfahrer, der dem Motto „Kauft euch glücklich“ allerdings nichts abgewinnen kann. Dass Winston und Julia verbotenerweise ein Paar werden, arbeitet Armin Petras manchmal berührend heraus, da hilft ihm auch die Choreografie. Der Kontakt zu einer Untergrundorganisation wird für Winston schließlich zum Verhängnis.

Man hätte sich zuweilen einen ruhigeren und einfühlsameren Blick in dieses komplizierte Gedankensystem gewünscht. Statt dessen gehen viele Details in einem ohrenbetäubenden Lärm unter. Trotzdem vermag diese Inszenierung aufgrund des nahtlosen und atemlosen Übergangs von der Musik zum gesprochenen Wort immer wieder zu fesseln. Für diese Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus gab es lebhaften Jubel, aber auch „Buh“-Rufe des Publikums.

Alexander Walther

 

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