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STUTTGART/Schauspiel Nord: PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG von Peter Handke. Premiere

Die Realtät wird auf den Kopf gestellt

26.05.2018 | Allgemein, Theater


Manolo Bertling, Birgit Unterweger, Natalie Selig, Peter Rene Lüdicke, Leo Schmidthals, Jeremy Mockridte. Copyright: Julian Marbach

Premiere „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke im Schauspiel Nord Stuttgart

DIE REALITÄT WIRD AUF DEN KOPF GESTELLT

Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke am 26. Mai 2018 im Schauspiel Nord/STUTTGART

„Hier gibt es nur ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt“, heißt es in Peter Handkes Stück „Publikumsbeschimpfung“, das bei seiner Uraufführung 1966 im Theater am Turm in Frankfurt zum Skandal wurde. Unter der inspirierenden Regie von Martin Laberenz spielen Manolo Bertling, Peter Rene Lüdicke, Jeremy Mockridge, Natali Seelig und Birgit Unterweger die versierten Publikumsbeschimpfer, die sich mächtig in ihre Rollen hineinsteigern. Im Hintergrund sieht man in einer Videoprojektion Szenen aus der Uraufführung der 60er Jahre (Bühne: Volker Hintermeier; Kostüme: Aino Laberenz; Musik: Leo Schmidthals).


Peter Rene Lüdicke. Copyright: Julian Marbach

So entsteht ein raffiniertes Illusionstheater aus Dialogen, Rollen und Handlung im vorgetäuschten Zeitablauf. Die Schauspieler genießen hier den „Helden“, das Publikum, in den unterschiedlichsten Variationen. Das wird in überzeugender Weise deutlich. Rhythmische Wortkanonaden beschreiben die Verhaltensweise im Bildungs-Theater: „Sie sind das Thema…Sie spielen nicht mit – hier wird Ihnen mitgespielt!“ Die Schauspieler spielen hier nicht, sie richten sich in ihrem Sprechen direkt an das Publikum: „Sie sehen so aus, als ob Sie sich beschimpfen lassen wollen.“ Der dramaturgische Spannungsbogen bleibt stets gewahrt – selbst dann, wenn Peter Rene Lüdicke genüsslich ein Müsli isst. Nach und nach werden auch Stühle ausgeteilt, so dass sich die stehenden Zuschauer setzen können. Der Aufstand gegen das Bestehende kann fortgesetzt werden. Die Beschimpfungen reichen von „Großmaul, Glotzauge, Revoluzzer“ bis zum „Beschmutzer des eigenen Nests„.

Wie sehr Handke das allgemeine Bewusstsein von Theater in seinen bisherigen Mitteln geändert hat, macht diese Inszenierung in all ihren verschiedenen Möglichkeiten deutlich. Die Zerstörung des Illusionscharakters macht aber eine neue Illusion möglich. Daran arbeiten auch konsequent Leo Schmidthals (Live-Musik) und Daniel Keller (Live-Kamera). Und die Sprache wird durch zahlreiche Aktionen illustriert – bis hin zum Spiel mit der Live-Band, die dem Publikum ordentlich einheizt. Rhythmische Wort- und Satzfolgen werden so geschickt in Strukturen der Beatmusik übertragen. „Ihr Nichtsnutze! Ihr Atheisten! Ihr Ewiggestrigen! Ihr Miststücke!“ Klagen über den fehlenden Dispokredit der Sparkasse vermischen sich mit den Beschimpfungen der Bankangestellten als „Nazi-Tussi„. Manches klingt sogar so, als ob man sich die Litaneien der katholischen Kirche ständig anhören müsste.

Dieses Stück gegen das Theater, wie es ist, zeigt bei dieser Aufführung immer wieder neue Facetten, die sich verändern. Dazu gehören ebenso die stark verinnerlichten Momente mit einer betont lyrischen Klaviermusik.

Starker Schlussapplaus. Es wird sogar Wodka gereicht.

Alexander Walther

 

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