STUTTGART/ Liederhalle : BOMBASTISCHE WUCHT
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR im Beethovensaal der Liederhalle am 10. April 2014/
Dass Sibelius und Bruckner durchaus gut zusammenpassen, demonstrierte der Dirigent Stephane Deneve mit dem glänzend disponierten Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Bei der Tondichtung „Lemminkäinen zieht heimwärts“ op. 22 Nr. 4 aus der „Lemminkäinen-Suite“ für Orchester von Jean Sibelius triumphierte die ungestüme Lebenskraft des Titelhelden. Nachdem der getötete Kämpe von seiner Mutter durch Magie wieder zum Leben erweckt wurde, machte er sich bei „Lemminkäinen zieht heimwärts“ auf in eine vertraute Atmosphäre. Die Harmonik mit ihrem energischer werdenden „Allegro con fuoco“-Gestus beschwor die frühere Lebenskraft des Helden in glühenden Klangbildern. Dynamische Kontraste wurden präzise herausgearbeitet. Der dänisch-israelische, in Kopenhagen geborene Ausnahmemusiker Nikolaj Znaider gilt als einer der führenden Geiger unserer Zeit – und beim feurig gespielten Violinkonzert in d-Moll op. 47 aus dem Jahre 1903 von Jean Sibelius bewies er sein enormes spieltechnisches Einfühlungsvermögen. Die eingängige Thematik überraschte das Publikum aufgrund ihrer genauen Charakterisierung. Der rhapsodische Kadenzenreichtum gefiel auch neben dem überschäumenden charakteristischen Hauptthema. Und das lyrische zweite Thema gewann immer größere Intensität, wobei der betont lyrische Ausdruck des längeren Zwischenspiels die Zuhörer überraschte. Bei der frei entwickelten Durchführung zeigte sich Sibelius‘ Vorliebe für den romantischen Gefühlsausdruck und seine rhapsodische Fortspinnung. Virtuos und wirkungsvoll erwies sich zudem der kadenzfrohe Solopart mit allen poetischen Sinnen. Elegische Wärme beherrschte den zweiten Satz Adagio di molto. Und beim rondoartigen Allegro-Finale ging Nikolaj Znaider dann ganz aus sich heraus. Dank ausgesuchter Rhythmen und der wirkungsvollen Aufmachung der Solostimme kam es zu einem hinreißend wirkungsvollen Ausklang. Und obwohl dem Solisten die Saite riss, zog er sich souverän aus der Affäre. Höhepunkt dieses Konzerts war aber in jedem Fall die Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur von Anton Bruckner, wo vor allem neben der Detailgenauigkeit die bombastische Wucht auffiel. Es handelte sich auch bei dieser wunderbaren Wiedergabe um ein ergreifendes Naturerlebnis, das alle ergriff. Der Meister von St. Florian verleugnete hier auch keineswegs sein Vorbild Beethoven und dessen „Pastorale“. Reine Waldesstimmung ließ Stephane Deneve beim ersten Satz mit seinen geheimnisvoll zarten Echo-Rufen aufleben. Wie aus grünem Schweigen tauchte das Hornthema mit dem bezeichnenden Quint-Intervall empor. Die ruhige Fortspinnung und ihre Umkehrung prägte sich bei dieser konzentrierten Wiedergabe tief ein. Im Bass schwoll das wilde Gewoge zu Urgewalt und majestätischer Kraft an. Vogelrufe der Geigen lockten das zweite Thema der Bratschen an. Es mündete in eine neue begeisternde Steigerung mit dem Schlussmotiv des ersten Themas – und überaus stimmungsvoll leitete der erste Hornruf in die vielgliedrige Durchführung. Der Choral der Blechbläser führte zum machtvollen Coda-Triumph. Exzellent gelang dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR auch der zweite Satz Andante quasi Allegretto mit dem deutlich herausgearbeiteten Vorbild Franz Schubert. Unter stockender Streicherbegleitung stimmten hier die Celli den dunklen und gefassten Trostgesang an. Das beschwor Stephane Deneve mit dem Orchester wahrhaft ergreifend. Die Bratschenmelodie mündete nach den weihevollen Choralklängen in die stockende Streicherbegleitung bis hin zum Doppelthema. Wilde Jagdromantik beherrschte dann das ungestüme Scherzo mit den gefühlvollen Tönen der Bratschenmelodie mit Streichern und Holzbläsern. Das Trio wog sich in schöner Harmonierückung. Unheimlich und geheimnisvoll begann das Finale. Ferne Hornrufe drohten in die Nacht hinein – ein grandioses Stimmungsbild. Wie von Zyklopenhand ließ Stephane Deneve das Hauptthema erklingen. Aus seinen Intervallen und dem Fünfer-Rhythmus ergaben sich deutliche Parallelen zum ersten Satz. In gebieterischer Größe meldete sich der Hornruf wieder und ein weit ausholendes Posaunenthema reckte sich gewaltsam empor. Bei der Durchführung gewann das Hauptthema viele neue Klangfarben. Diese neuen Themenprägungen zeigten sich bei der stürmischen Wiedergabe auch bei der Reprise bis hin zur Umkehrung des Hauptgedankens. Die Coda beeindruckte als gläubige Hymne mit ungeheurer dynamischer Wucht. Stephane Deneve ließ das Radio-Sinfonieorchester des SWR hier wie mit tausend Zungen sprechen. Auf der anderen Seite wirkte alles wie aus einem Guss. Eine Meisterleistung.
Alexander Walther