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STUTTGART/ Liederhalle: 3. SINFONIEKONZERT DES STAATSORCHESTERN STUTTGART – Mitgefühl für die Menschheit

3. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart in der Liederhalle

MITGEFÜHL FÜR DIE MENSCHHEIT

Bewegendes Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart am 18. Januar 2015 im Beethovensaal der Liederhalle

Schubert wollte laut Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling in seinen Kompositionen Mitgefühl für die Menschheit wecken. Aus diesem Grunde wohl wählte Cambreling als Motto des dritten Sinfoniekonzerts „Unvollendete“. Zunächst erklang von Johann Sebastian Bach in der subtilen Bearbeitung von Anton Webern die Fuga (2. Riccercata) aus „Das musikalische Opfer“ für Orchester. Friedrich der Große hatte Bach den Auftrag gegeben, aus einem improvisierten königlichen Thema eine sechsstimmige Fuge zu zaubern. Wie sehr Anton Webern die reife kontrapunktische Kunst Bachs verehrte, ließ Sylvain Cambreling mit dem konzentriert musizierenden Staatsorchester deutlich werden, das den enomen Klangfarbenreichtum der Partitur minuziös herausarbeitete. Auch die Intervallspannungen kamen dabei nicht zu kurz. Holz- und Blechblasinstrumente, Harfe, Pauken und Streicher vereinigten sich hier zu einem bewegenden Klangkosmos, dessen chromatische Figurationen die Zuhörer beeindruckten. Das Pizzikato der Streicher und die feinen dynamischen Veränderungen wurden von den Musikern höchst sensibel gestaltet, die dreidimensionale Klangskulptur Weberns entwickelte sich so wie von selbst. Auch kleinste Motivzusammenhänge erhielten innere Spannung. Eine bilderreiche Klangwelt wurde hier sehr ausdrucksstark beschworen. Als scharfen Kontrast spielte das Staatsorchester Stuttgart dann Alban Bergs revolutionäre drei Orchesterstücke op. 6 aus dem Jahre 1914 – gleichsam als Vorahnung des ersten Weltkriegs. Umkehrungen und andere Hexereien des Kontrapunkts ließ das Staatsorchester unter der explosiv-anfeuernden Leitung von Sylvain Cambreling hervorragend deutlich werden. Man begriff, dass Berg ein Thema kaum einmal ganz einem Instrument oder einer Instrumentalgruppe überlässt. Das Klangmosaik behauptete sich eindrucksvoll. Gut akzentuierte Cambreling mit dem Staatsorchester auch, dass Alban Berg die Themen hier nie fertig vorstellt, sondern sie hochvirtuos entstehen lässt. Eine vorzeitliche Geburt, wie der Berg-Biograph Willi Reich bemerkte. Chaos und panische Bedrohung ließ Cambreling immer wieder unheimlich anschwellen – dann stockte plötzlich der melodische Atem. Das Geräusch des Präludiums begann forsch mit einem Schlagzeug-Einsatz, allmählich formte sich das Thema, wurde frei durchgeführt, streifte prophetisch den Anfang des zweiten Stückes und versank im Geräusch des Beginns. Der dreiteilig gebaute zweite Satz „Reigen“ entfaltete ebenfalls einen mitreißenden Sog. Sein Kern ist ein mehrfach variierter Walzer, dessen Keimphasen in der Einleitung auftreten und am Schluss wieder verklingen. Dies unterstrich das Staatsorchester Stuttgart unter Sylvain Cambrelings Leitung ausgezeichnet. Der groteske Marsch des dritten Stückes stürzte die Zuhörer in einen wahren Taumel ungezügelter Klangflächen, deren Motivtrümmer zersplitterten. Vor allem die Zuspitzung auf die drohende Katastrophe hin bis zu den gnadenlosen drei Hammerschlägen (fast eine Assoziation zu Gustav Mahlers sechster Sinfonie) interpretierte das Ensemble formal klar, jedoch klanglich äußerst aufwühlend. Das zweite Konzert für Violoncello und Orchester op. 178 von Xaver Paul Thoma ist ein Kompositionsauftrag der Oper Stuttgart. Thoma ist seit 1990 Bratschist im Staatsorchester Stuttgart, seit 1977 ist er auch Bratschist bei den Bayreuther Festspielen. Francis Gouton, erster Solocellist im Staatsorchester Stuttgart seit 1990, spielte den schwierigen Solopart souverän mit nie nachlassender Energie. Auf- und Abwärtsbewegungen beherrschten dabei die glühende Orchesterlandschaft. Mit einer Triole begann das Spiel des Violoncellos wie aus dem Nichts. Miniaturen, Glissandi, Pizzikati und ausladende Melodiebögen vereinigten sich zu einer nuancenreichen Orchesterlandschaft. Sogar eine Mundharmonika wird hier eingesetzt, was zu einem sehr lebendigen Dialog von Mundharmonika und Violoncello führt. So wird das Soloinstrument zu Mehrklängen herausgefordert. Der Sehnsuchtston der Mundharmonika führt zu einer Kadenz als Dreh- und Angelpunkt der vielschichtigen Partitur. Bläserklänge fächern sich gleichsam auf. Am bemerkenswertesten ist dem Komponisten Xaver Paul Thoma der Schluss des Werkes gelungen, dessen geheimnisvoller Ritardando-Charakter die Klänge des Violoncellos entschweben lässt. Da bot der Solist Francis Gouton eine famose Leistung. Thomas Vorliebe für kleine Tonschritte und chromatische Läufe machte der Solist Francis Gouton sehr schön deutlich. Einflüsse von Max Regers Musik waren ganz entfernt herauszuhören. Dies zeigte sich bei den schroffen Moll-Akkorden des Orchesters. Zum Abschluss interpretierte Sylvain Cambreling Franz Schuberts Sinfonie Nr. 8 in h-Moll, die so genannte „Unvollendete“, als wahre Huldigung an die Menschheit. Die leise und geheimnisvolle Frage der tiefen Streicher überstrahlte den gesamten Klangraum. Bange Trauer blieb bei Cambrelings Wiedergabe stets hörbar. Und das mystisch-raunende Weben der Natur meldete sich in der Phrase der Violinen, über denen Oboen und Klarinetten transparent das erste Thema anstimmten. Die vom Leben verwundete Seele bekannte sich zu ihrem Schicksal. Als harmonischer Übergang wurde eine ganz einfache Modulation gestaltet, die begütigend und einlenkend wirkte. Das zweite Thema der Celli (bekannt geworden als „berühmteste Melodie der Welt“) wurde ebenso facettenreich gestaltet. Zarte Harmonietönungen kosteten die Entzückungen dieser Melodie aus. Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung bahnte sich an, die vom dritten Takt der Cello-Melodie mit schneidender Kraft getragen wurde. Dann drängten die beiden ersten Takte in den Vordergrund und beendeten die großartige Exposition, die stockend in das Bassthema des Anfangs hinabsank. In der Durchführung nahmen die Violinen das Thema als Symbol der Verlassenheit auf. In der Coda kehrte das Bass-Thema des Beginns wieder – man versuchte eine Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis des Lebens zu finden. Sylvain Cambreling interpretierte diese Sinfonie gleichsam als Frage nach den letzten Dingen. Dies machte sich ebenso beim zweiten Satz Andante con moto bemerkbar. Wie geschickt Schubert dabei aus weitgeschwungenen Episoden kurze Phrasen entwickelte, demonstrierte das Staatsorchester Stuttgart klanglich durchsichtig. Wie schwere Tropfen wirkte die niederfallende Figur der Kontrabässe unter der spannungsvollen Ankündigung von Hörnern und Fagotten. Harmoniewechsel und melancholische Klarinettenmelodie wuchsen bei dieser Wiedergabe ganz zusammen. Schattierungen zwischen Dur und Moll beherrschten den Klangzauber, Bässe und Posaunen übernahmen plötzlich wuchtig und beherrschend das Thema. Nach leidenschaftlichem Aufbegehren kam es zu einem ergreifend gespielten Abgesang, den Violinen und Flöten einleiteten. Sylvain Cambreling bot hier eine Interpretation, die harmonische Wagnisse nicht zudeckte, sondern offenlegte. 

 Alexander Walther   

 

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