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STUTTGART: LA SONNAMBULA – Premiere

23.01.2012 | KRITIKEN, Oper

Stuttgart

„LA SONNAMBULA“ 22.1. (Premiere) – Abgründe einer Dorfgesellschaft:

 
Treffpunkt im alpenländischen Gasthaus. Copyright: A.T.Schaefer

Bellinis 1831 am Mailänder Teatro Carcano uraufgeführtes Melodramma nach Eugène Scribe und einer Comédie-Vaudeville von Armand D’Artois und Henri Dupin, eines der wenigen heute noch gespielten Werke pastoral idyllischen Charakters, kann dem heutigen Publikum ganz sicher nicht mehr mit dem naiven Auge der Romantisierung gezeigt werden. Das haben Stuttgarts neuer Opernintendant Jossi Wieler und sein beständiger Co-Regie führender Dramaturg Sergio Morabito völlig richtig erkannt, indem sie die darin dargestellte Gesellschaft, die hier neben den Solisten eine gleichberechtigt tragende Rolle spielt, als eine in ihren Strukturen verkrustete Bevölkerung zeigen. Statt einer an der Oberfläche heilen Schweizer Dorfwelt blicken wir während der ganzen Aufführung von Mal zu Mal betroffener hinter die Fassade von verlogener Moral und Leichtgläubigkeit. Der in einem gewissen sozialen Mief unverkennbar auf das Konto von Anna Viebrock gehende Bühnenraum, ein weit nach hinten gestreckter Saal in Lisas Gasthof mit beiderseitig aufgereihten großen Schränken und alpenländisch anmutendem Treppenaufgang und Fenster mit Blick auf den Mühlbach? liefert dazu die optische Verankerung. Ebenso die Kostüme, die einen Bogen vom 19. bis ins jüngere 20. Jahrhundert schlagen und dadurch das geschlossene Bild einer Epoche aufbrechen. Zur psychologischen Verstärkung wird Aminas gestorbene Mutter, mit der der junge Graf einst eine Liaison hatte (die in Bellinis Vertonung jedoch nicht von Bedeutung ist), als Geistererscheinung ins Spiel gebracht – ein allerdings überflüssiger Einfall, der auf viel zwischenmenschliche Spannung, aber leider auch einige fehlplazierte Lacher und  unnötigen Lärm und teilweise damit verbundenen Kunstpausen ausgerichteten Regie. In der analytischen Durchleuchtung der einzelnen Charaktere, ihrem gnadenlos offen gelegten Verhalten, erfährt das Stück eine verdiente Aufwertung. Es bleibt eben nur die Frage, wie weit dies getrieben werden kann, ohne mit der Musik und ihrem Aussage-Gehalt in Konflikt zu geraten. Zumeist bestehen in dieser Inszenierung nur geringe Deckungslücken, doch der Schluss setzt sich zweifellos eigenmächtig interpretiert über die musikalisch vorgegebene Stimmung hinweg. Ein leichtes Ausrufezeichen in Form eines bedeutungsvollen Blicks oder einer Geste hätte gereicht, um Zweifel am beständigen Glück von Amina und Elvino aufzuzeigen. Das völlig leblose, ja fast starre Schlussbild nach Aminas Erwachen und zu ihrem unbeschreiblichen Freudentaumel, in den alle außer der verständlicherweise schmollend davon gelaufenen Lisa einstimmen, ist eine Ohrfeige für diese nun wirklich euphorisches Glücksgefühl verströmende Final-Cabaletta, und macht den virtuos aufgebauten Wandel von tiefer Trauer zu strahlender Freude mit einem Schlag zunichte. Immerhin schloss sich die musikalische Interpretation dergestalt an, indem Ana Durlovski statt des üblicherweise unendlich langen triumphalen Schlusstons zuvor eine extreme Note erklimmt, von der sie dann wie in Vorahnung eines nicht dauerhaften Glücks vor den letzten Orchesterakkorden wieder abstürzt. Dennoch: auch ohne das Ensemble überstrahlenden Sieg ersang sich die mazedonische Sopranistin einen rauschenden Publikumserfolg. Wie schon bei ihrer Lucia vor zwei Jahren bildet ihr leicht melancholisch getränktes Timbre in Verbindung mit einer in zarten Farben schimmernden Strahlkraft die ideale Grundlage für den labilen Typ der zum Wahnsinn neigenden Frauengestalten des 19. Jahrhunderts. Dazu kommt noch ihr weiter Atem, der Bellinis unendliche Melodien als eine unabreißbare Kette tiefst erfühlter Sequenzen Klang werden lässt. Extrembereiche wie hauchzarte Piani und mitreißende Spitzen erfüllt sie gleichermaßen wie die bedeutungsvolle Koloratur. All das tritt in einen reizvollen Kontrast mit ihrer eher modernen Erscheinung und ihrer tänzerisch leichten Spur als Nachtwandlerin.   

Nach seinem wohl einfühlsamen, aber mit zunehmender Höhe schmaler werdendem Gluck’schem Orphée überraschte der Brasilianer Luciano Botelho als Elvino mit apart gleichmäßig geführter Mittellage und einer Technik, mit der er die stratosphärischen Höhen wohl nicht mühelos in die Gesangslinie einbinden konnte, sie aber doch achtbar gerundet erreichte. Die leicht zu entfachende Eifersucht des reichen Gutsbesitzers treibt ihn hier so weit, dass er während seiner Arie im zweiten Akt Amina immer wieder mit Gewalt an den jungen Grafen pressen will. In dem sonnigen, lebensfreudigen Typ mit tenoralem Schmelz wäre dies gar nicht zu vermuten gewesen, doch so faszinieren gerade auch diese Phasen durch hohen klanglichen Reiz. Vokales und darstellerisches Charisma verströmt auch der bereits erwähnte, zunächst unbekannte Grafensohn Rodolfo in der prächtigen Wiedergabe durch Liang Li. Der Chinese mit dem so warm, wohltuend und breit füllig strömenden Bass bietet Belcanto-Labsal als auch die differenzierte Studie einer väterlichen Autorität als auch eines Frauen-Verführers. 

Die zwischenzeitlich zur Braut erwählte, dann aber ebenfalls mit dem Grafen ertappt wordene Lisa spielt Catriona Smith als richtige Zicke im leicht mondänen Glitzer-Jäckchen und schnellem Griff zur Zigarette herzhaft aus und wertet ihre beiden Soli, die gerne zur reinen Stimmakrobatik benutzt werden, mit fraulich gesetztem und dennoch höhenbrillantem und triller-geübtem Sopran erheblich auf. Als Ziehmutter Teresa setzt Helene Schneiderman all ihre warme Bühnenpräsenz und die Einfühlsamkeit ihres belcanto-fähigen Mezzos ein, um sich als einzige auf Aminas Seite zu behaupten, auch wenn ihr im ersten Moment nach deren offensichtlicher Schuld die Hand ausrutscht.

Die stiefmütterliche Rolle des von Lisa abgewiesenen Alessio wurde hier zu einer fast dauerpräsenten Studie eines zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her getriebenen Mannes ausgeweitet, in der der sonst eher unauffällige Motti Kaston ungeahntes schauspielerisches Gewicht entfaltete und auch in den wenigen Solomomenten vokale Aufmerksamkeit erzeugte.

Die vielleicht bemerkenswerteste Leistung vollbrachte indes der Staatsopernchor (Einstudierung: Michael Alber), der als eine Zusammensetzung aus lauter individuell gezeichneten Dorfbewohnern mit all ihren Ticks erneut seine differenzierte Spielbereitschaft, schauspielerisches Können und auf Belcanto-Maße reduzierte Farb- und Kraftdynamik professionellst zur Geltung brachte. Warum er allerdings zum Ständchen für den in seiner Identität gelüfteten Grafensohn mit allerlei Haushaltswaffen anrückt, mit denen dann später im Volkszorn gegen die ertappte Amina eingerückt wird, bleibt ebenso unlogisch wie das unbeteiligte vor sich her Singen beim finalen Liebesglück.

Belcanto vom Feinsten bot das hochgefahrene Staatsorchester Stuttgart dank der auf Sängerfreundlichkeit und natürlichen Atem setzenden Leitung von Gabriele Ferro. Der ehemalige Stuttgarter Generalmusikdirektor, mit lang anhaltendem Applaus schon zu Beginn begrüßt, erwies sich wieder als Erzmusikant, der Bellinis Musik, wie sie „schöner nicht geträumt werden kann“ (Richard Wagner), in jeder Faser mit feinster Lyrik und melodischer Wärme und organisch aufgebauten Steigerungen zum Erblühen brachte. Klar intonierte Bläsersoli und weiche Streicher-Unterlagen gehörten ebenso dazu wie das Ausschwingen von begleitenden Details. Hätte der Hausherr doch zur Gänze dieser Bellini-Authenzität  vertraut, wäre uns das leider abstürzende Ende einer überwiegend gelungenen szenischen Heranholung an unsere Zeit erspart geblieben.

Nichtsdestotrotz war kein Kontra zu vernehmen, und das allesamt Rollendebuts feiernde Ensemble wurde mit verdient großer Begeisterung gefeiert.                                

Udo Klebes

 

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