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STUTTGART: LA JUIVE – „Frontal gegen die Magengrube“

30.04.2012 | KRITIKEN, Oper

Staatsoper Stuttgart: „LA JUIVE“ 29.4.2012 – Frontal gegen die Magengrube

 Da bietet ein hochgeschätztes Opernhaus eine in allen Belangen modellhafte Produktion eines Schlüsselwerkes der „Grand Operá“ an – und trotzdem wird die Theaterkasse nicht gestürmt, bleiben viele Plätze leer. Das Staatstheater Stuttgart verdient höchste Anerkennung, Fromental Halevys „La Juive“ seit der Premiere dieser NI im März 2008 erneut in den Spielplan aufzunehmen und all jene zu beschenken, die bereit sind, sich auf einen emotional  höchst packenden Geschichtserlebnis einzulassen.

Anfänglich irritiert die Enge  der Bühnenlösung von Bert Neumann, die die christliche (Dom) und die jüdische Welt gegenüberstellt. Aber gerade diese Enge ist es, die den Glaubenskonflikt in voller Heftigkeit vorantreibt. Markant-makabrerer Höhepunkt stellt der 5. Akt dar, als ein zuvor Eleazars Haus plündernder Mob auf Party macht, um im Schatten des festlich dekorierten Gotteshauses mit Stern von Bethlehem auf die Hinrichtung von Rachel und Éléazar entgegen zu hecheln. Jossi Wielers aufwühlende Regie bindet den Zuschauer in das Geschehen ein und versteht geschickt geschichtliche Zeitsprünge zu verknüpfen.

Nina von Mechows Kostümentwürfe entsprangen nicht gerade einem Quell von höchster Inspiration – das Volk in Gegenwartskleidung zu stecken dürfte sich zwischenzeitlich leer gelaufen haben.

Der junge französische Dirigent Sébastien Rouland hingegen ist ein Born der reinsten Freude – seinem wachen, Spannung ebenso wie die Schilderungen von Seelenzuständen erzeugenden Dirigat folgt das bestens disponierte Staatsorchester Stuttgart hingebungsvoll, besonders die Bläsergruppe demonstriert höchste Qualität.

Dass die Stuttgarter Oper mit seinem fabelhaften Opernchor, einstudiert von Michael Alber und Winfried Maczewski, ein besonderes vokales Juwel aufzubieten hat, wurde an diesem Abend erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt. In der eminent schwierigen Partie des Éléazar erobert sich der früher als Spezialist für virtuosen Barockgesang bekannte Gilles Ragon ein neues Terrain. Sein bedingungsloser Einsatz, seine exzellente Diktion nehmen das Publikum gefangen und lassen einen die Register besser verbindenden Tenor mit etwas mehr Charisma
weitestgehend vergessen. Als seine Bühnentochter Rachel wirft sich die Russin Tatiana Pechnikova mit Verve in das blutige Bühnengeschehen. Ihr ins jugendlich-dramatische tendierender Sopran kann sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten enorm steigern, bereits ihre große Arie im 2. Akt rückt ihre vokalen Qualitäten (emotionaler Gesang, strahlende Höhen) ins beste Licht.

Als Bühnenfigur verfügt sie über ein starkes Ausdruckspotential, das hin und her gerissen Sein zwischen Tochterpflichten und um Liebesglück Kämpfender kommt überzeugend über die Rampe. Als ihre Rivalin um die Gunst ihres Geliebten reüssiert die seit langem dem Haus angehörende Engländerin Catriona Smith. Sie veredelt die zum Teil virtuosen Gesangslinien mit ihrem strahlenden, mit einem höchst aparten Herzenston ausgestatteten Sopran. Ihr großes Duett mit Rachel im 4. Akt zählte zweifelsohne zu den Höhepunkten des Abends. Warum nach dieser
Bravourleistung kein (!) Applaussturm einsetzte, ist unverständlich. Mit dem Chinesen Liang Li verfügt die Stuttgarter Oper über einen echten basso cantante edelsten Geblüts. Einen Bassisten mit einem derart wohlklingenden, makellos intonierenden Material wird man lange suchen müssen! Der junge Russe Dmitry Trunov  verkörpert den zwischen Gattin und Geliebter schwankenden Reichsfürst Leopold glaubhaft. Sein Tenor meistert die heikelsten, fast als unsingbar zu bezeichnenden Passagen problemlos und behält trotzdem einen kultivierten Klang – die Töne werden nicht nur angetippt, sondern voll ausgesungen. Auch dieser Sänger verdient weiterhin beobachtet zu werden! In den kleineren Rollen ergänzten zufrieden stellend Karl-Friedrich Dürr (als widerlicher Amtsmann von Konstanz), Motti Kastón (Sergeant) und Sebastian Bollacher (Ausrufer).

Reizend in Spiel und selbstbewusstem Auftreten das Kinderballett der John Cranko Schule in der szenischen Umsetzung der Schlacht, die
Leopold siegreich bestanden hat.

Nach 5 ¼ Stunden (reine Musikdauer 255Minuten!) ist man erschlagen von der Schönheit und dem Reichtum der leider viel zu wenig beachteten Musik Halevys, der in Summe großartigen musikalischen Umsetzung und den vielen starken Bildern, die noch lange nachwirken. Gerade deswegen fiel der Publikumsdank mit weniger als zehn Minuten verstörend knapp bemessen aus.

Dietmar Plattner

 

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