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STUTTGART: LA BOHÈME – eine berührende Lebensnähe. Premiere

31.05.2014 | KRITIKEN, Oper

STUTTGART: Premiere von Puccinis LA BOHÈME  am 30. Mai in der Staatsoper/STUTTGART  – „eine berührende Lebensnähe“

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 Atalla Ayan (Rodolfo) und Pumeza Matshikiza (Mimi). Foto: Martin Sigmund

Kaum zu glauben, dass die Premiere von Puccinis „La Boheme“ im Jahre 1896 in Turin von der italienischen Erstaufführung von Wagners „Götterdämmerung“ überschattet wurde. Die versierte Regisseurin Andrea Moses hat dieses oft unterschätzte Meisterwerk des Verismus und auch des Impressionismus kühn und intelligent in die heutige Zeit übertragen. Und man spürt Wagners „Tristan“-Chromatik durchaus, denn Puccini war zeitlebens von Wagners Werken beeindruckt. Wir begegnen dem modernen Paris des 21. Jahrhunderts – ausgehend von den Boheme-Bildern des 19. und 20. Jahrhunderts: Caspar David Friedrich oder Franz von Stuck lassen ganz versteckt grüßen. Video-Einblendungen imponieren vor allem beim Schlussbild von Mimis Tod, hier ist Andrea Moses ein sehr guter Einfall gelungen. Die Hausfassade im ersten Akt wird von vielen Fernsehmonitoren beherrscht, die die Personen aber noch nicht in überdimensionaler Größe wie im letzten Akt zeigen. Man begreift: Die Menschen sind von der technischen Entwicklung einfach überrollt worden. Bei der facettenreichen Inszenierung gibt es ferner Reminiszenzen an die Kommune 1 der 1960er Jahre und an die französischen Situationisten. Ein umtriebiges Kreativ-Team ist hier stets zugange und sorgt zuweilen für rasante Abwechslung. Dies merkt man vor allem beim zweiten Bild mit dem Auftritt der Vorstadt-Diva Musetta. Heutige Künstler-Lebenswelten werden immer wieder auf die Schippe genommen und zuweilen auch karikiert. Die Gestaltung von Atelier, Galerie und öffentlichen Räumen hat der Künstler Stefan Strumbel übernommen. In Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Susanne Gschwender sind so Bühnenräume entstanden, in denen die künstlerische Heimat mit einer weihnachtlichen Konsumwelt konfrontiert wird. Der Tod hat in dieser zuweilen kalten und abstrakten Welt natürlich auch Platz. Und immer wieder zeigt sich das Rotlicht-Milieu von seiner unergründlichen Seite.

Der Dirigent Simon Hewett verleugnet bei seiner Interpretation keineswegs den Einfluss Puccinis durch Wagner, wobei er mit dem konzentriert musizierenden Staatsorchester Stuttgart die Vernetzung der Leitmotive in bewegender Weise herausarbeitet. Claude Debussy meinte zu Puccinis „La Boheme“: „Ich weiß von keinem, der das Paris jener Zeit so gut beschrieben hätte.“ Gerade diesen durchsichtigen harmonischen Zauber arbeitet Simon Hewett mit dem Staatsorchester Stuttgart überzeugend heraus. Da spürt man durchaus elektrisierende Funken im Orchestergraben. Die Fülle kleiner Themen und Motive blüht regelrecht auf, man merkt, dass es sich um eine leidenschaftliche Liebesgeschichte handelt. Und Andrea Moses hat diesen Aspekt auch nuancenreich herausgearbeitet. Das alles wird so zu einem Gewebe von großer Dichte verknüpft. Und die bewegliche Rhythmik bis hin zu den rasanten und mitreissenden Walzer-Sequenzen kommt ebenfalls nicht zu kurz. Die Liebesszene zwischen Mimi und Rodolfo besetzt eine markante Ausdruckssteigerung, woran Atalla Ayan als Rodolfo und Pumeza Matshikiza als Mimi ganz entscheidenden Anteil haben. Bei den Liebesszenen ergänzen sie sich nämlich hervorragend.

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Bogdan Baciu (Marcello). Foto: A.T. Schaefer

Musikalisch eindringlich gestaltet wird bei dieser Aufführung ebenfalls das zweite Bild als einziges reich gegliedertes Ensemble mit dem furiosen Höhepunkt des Musette-Walzers. Yuko Kakuta besitzt als Musetta starken stimmlichen Charakterisierungs- und Klangfarbenreichtum. Die logischen Erinnerungsmotive der kunstvollen Partitur werden von Andrea Moses im dritten Bild mit dem Schneetreiben an der Barriere d’enfer geschickt umgesetzt. Das pittoreske Pariser Milieu kommt jedenfalls nicht zu kurz, dazu tragen auch die zuweilen schrillen Kostüme von Anna Eiermann bei. Andrea Moses hat bei ihrer Inszenierung nicht den Fehler gemacht, Puccini in einer luxuriösen Traumwelt anzusiedeln. Es existiert dabei auch keine oberflächliche Erotik, sondern man begreift, dass die weibliche Psyche hier die eigentliche Inspirationsquelle ist, der auch Rodolfo hilflos ausgeliefert ist. Die zärtlich-sensible Ausdrucksfähigkeit dieser wunderbaren und gar nicht kitschig interpretierten „Poesie des Alltags“ wird zudem von den anderen Sängerinnen und Sängern wie etwa Andre Morsch als Schaunard, Bogdan Baciu als Marcello, Adam Palka als Colline, Mark Munkittrick als Benoit, Alois Riedel als Parpignol oder Kenneth John Lewis als Alcindoro packend umgesetzt.

Die große Sehnsucht nach menschlichem Glück macht vor allem Pumeza Matshikiza als Mimi hervorragend deutlich, denn sie wird von ihrer schweren Krankheit förmlich niedergedrückt und gedemütigt, obwohl sie heftig dagegen aufbegehrt. Dies entlockte dem Publikum zu Recht Begeisterungsstürme, die auch angesichts der Verzweiflungsausbrüche von Rodolfo anhielten. Die lodernde Gesangsmelodie wird jedenfalls von Atalla Ayan und Pumeza Matshikiza überzeugend umgesetzt und mit glühender Emphase verdeutlicht. Wie Puccini hier aus geschmeidigen Kantilenen intime Lyrik entwickelt, fesselt die Zuhörer immer wieder. Die lebensfrohen und realistischen Szenen des Momus-Bildes, die starken Farben des Weihnachtsabends in der Stadt, die blitzenden Walzer-Passagen von Musetta sowie der Marschrhythmus der  aufziehenden Wache bilden einen gewaltigen Klangkosmos, der die Modernität Giacomo Puccinis unter Beweis stellt. Und die visuelle Bildersprache erreicht bei Mimis Tod im grellen Licht des Kunstmarktes und eines abstrakten Ateliers ihren Höhepunkt. Das Zusammen- und Auseinanderleben der ganzen Gruppe lässt sich dabei am besten beobachten. Simon Hewett hat der Partitur bei seiner Interpretation süßliche Sentimentalität ausgetrieben. Das Parlando entwickelt sich so leicht und geradezu sphärenhaft aus der Konversation. Wie sehr sich Puccini bei seiner Orchesterbehandlung an den Stimmen orientiert und auch überempfindliche Reaktionen bei dieser glühenden „Musik in Prosa“ in magische Töne bannt, kann man bei dieser Aufführung wiederholt erleben.

In weiteren Rollen bieten Heiko Schulz als Sergeant, Tommaso Hahn als Zöllner und Alexander Efanov als Pflaumenverkäufer gute Ensembleleistungen. Ausgezeichnet agiert auch wieder der sorgfältig einstudierte Staatsopernchor sowie der fulminante Kinderchor der Oper Stuttgart unter der einfühlsamen Leitung von Christoph Heil. Vielleicht hätte man Personenführung und Bühnengeschehen bei manchen Szenen noch besser in Einklang bringen können, doch das gesamte Konzept gefällt vor allem aufgrund seines klaren Zuschnitts auf die Person von Mimi, die dadurch Glaubwürdigkeit und plastische Klarheit erhält. So ist ein Seelendrama entstanden, das niemanden kalt lässt.  Weniger geglückt sind aktuellen Bezüge zu Stuttgart.

 Alexander Walther

 

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