Rita Feldmeier. Foto: Johannes M. Jauk-Web jpg.
STUTTGART: Eröffnung des 6. Interkulturellen Theaterfestivals mit „Occident Express“ im Kammertheater Stuttgart. Gastspiel „Made in Germany: Occident Express“ am 13. November mit dem Hans Otto Theater Potsdam im Kammertheater/STUTTGART
Zwischen Euphorie und Hoffnung
Vom 13. bis 17. November 2019 zeigen Stuttgarter Theaterhäuser bereits zum sechsten Mal interessante Produktionen rund ums Einwanderungsland Deutschland. Den Auftakt machte „Occident Express“ des in Florenz geborenen Stefano Massini, dessen Stück die abenteuerliche Flucht einer alten Frau in den Mittelpunkt stellt. Haifa, eine alte Frau aus der Wüste im Norden des Irak, muss ihre Heimat plötzlich verlassen. In der subtilen Inszenierung von Esther Hattenbach (Bühne und Kostüme: Regina Lorenz-Schweer) werden die einzelnen Stationen zwischen Angst, Euphorie, Hoffnung und Verzweiflung in beklemmender Weise sichtbar. Man sieht, wie Männer mit Maschinengewehren in ihr Dorf kommen. Alle Bewohner werden erschossen. Nur Haifa und ihre vierjährige Enkeltochter Nassim überleben die Katastrophe. Nun beginnt eine aufreibende Flucht, die kein Ende nehmen will. Begleitet wird die überaus wandlungsfähige Schauspielerin Rita Feldmeier als Haifa von einem imaginären Chor mit Jonas Götzinger, Arne Lenk und Franziska Melzer, die ihre Worte echoartig wiederholen. Das erinnert zuweilen an die Handlungsebenen der griechischen Tragödie: „Sie sagten uns, dass wir Glück gehabt hätten“. Nebel ist zu sehen, der die Bühne mit dem großen Klavierflügel geradezu einrahmt, auf dem Handwerksutensilien liegen.
Der Musiker und Pianist Johannes Bartmes beschwört rhyrthmisch scharfe Klangflächen, die sich der Syntax und dem Sprachwirbel des abwechslungsreichen Textes gut anpassen. Auf einer kleinen Holzempore scheint ein großer Stein zu liegen. Wie in einem Brecht-Schauspiel wird die alte Frau vor unabänderliche Tatsachen gestellt. Man verhängt über sie auch die Ausgangssperre: „Die überlebenden Tiere machen einen Höllenlärm!“ Doch jetzt schließen sich auch drei weitere Kinder der Gemeinschaft um die tapfere alte Frau an. Und ihr Weg über die Balkanroute gleicht einer Odyssee, was die einfühlsame Regisseurin Esther Hattenbach immer wieder in packenden Bildern einfängt. Haifa ist aus ihrer Heimat weggezogen, weil sie keine andere Wahl hatte. Das macht Esther Hattenbach trotz des kargen Bühnenbildes ebenfalls sehr überzeugend deutlich. Die Sprache ist klar und kraftvoll, zuweilen auch fordernd, was der versierten Schauspielerin Rita Feldmeier eindringlich gelingt. Dabei wird Haifas Person im Laufe dieses ungewöhnlichen Abends immer mehr greifbar – und auch der Chor zeigt viele Facetten. Der Zuschauer wird hier zum Mitmachen aufgefordert. Soll man die Geflüchtete abweisen oder aufnehmen? Dabei gerät das Publikum während der psychologisch vielschichtigen Inszenierung immer stärker in einen beklemmenden psychologischen Seelentaumel hinein. Dieser Sog gewinnt eine zuweilen beängstigende Intensität, die nicht mehr nachlässt. Verschiedene Ebenen der Begegnung werden so ermöglicht. Dies ist der vielleicht wichtigste Aspekt dieser Inszenierung. Die Schauspielerin begegnet der Figur. Durch Nachsprechen des Textes wird sie zu Haifa und trifft so ganz unmittelbar ihr gebanntes Publikum. Der Musiker Johannes Bartmes reagiert gleichsam auf die Handlung. Das ist ein spannender Entwicklungsprozess, der sich unentwegt fortsetzt. Man hört das Knallen von Maschinengewehren – und der Chor tanzt wie in Trance dazu. Diese Bilder prägen sich tief ein, lassen den Zuschauer nicht mehr los. Selbst deutsche Volkslieder finden bei dieser Inszenierung als ironischer Seitenhieb Platz: „Das Wandern ist des Müllers Lust…“
Begeisterter Schlussapplaus.
Alexander Walther