„18 Briefe und eine Fabel aus Belarus“ im Foyer des Kammertheaters am 24.5.2022/STUTTGART
Ein Gefühl der Heimatlosigkeit
Therese Dörr. Foto: Björn Klein
Im Mittelpunkt dieses Ein-Personen-Stücks von Maryana Mikhalchuk, die hier auch Regie führt, steht die wandlungsfähige Schauspielerin Therese Dörr, die virtuos dokumentarische Versatzstücke der jüngsten belarussischen Vergangenheit mit dem autobiografischen Roman „Camel Travel“ von Volha Hapeyeva verbindet. Kindheit und Jugend zwischen Minsk und Moskau werden grell beleuchtet. Frauen wie Swetlana Tichanowskaja, Maria Kalesnikava sowie weitere Aktivistinnen wurden schnell zu Symbolfiguren der belarussischen Protestbewegung. Viele Menschen wurden seit 2020 außer Landes gezwungen und inhaftiert. In zahlreichen Videosequenzen berichten Frauen von ihrer Haft in Untersuchungsgefängnissen und Strafkolonien. Zwischen Flechtfrisuren und rhythmischer Sportgymnastik lässt Therese Dörr das Wesen der Protagonistin lebendig werden, die sich selbst auch als „Neurotikerin“ bezeichnet. Sie gibt Hinweise auf die Generation der Belarussinnen, die im August 2020 auf die Straße gingen und Briefe aus der Haft schicken.
So sieht man in den Videos auch erschütternde Ausschnitte von gewalttätigen und erbarmungslosen Straßenkämpfen. Und man erfährt von der Fabel mit dem beziehungsreichen Titel „Papa und Pinguin“. Die Hoffnung auf ein Ende der Diktatur Alexander Lukaschenkos ist in diesem Stück immer wieder allgegenwärtig. Und Therese Dörr schlüpft in das Kostüm des Pinguins, der sein Leben irgendwie doch in der Strafkolonie zubringen muss. Sie hat zwischen einem weißen Tuch sowie roten und blauen Kisten Platz genommen. Die Bühne von Hannah Zickert und die Kostüme von Natalie Nazemi passt sich der düsteren Welt in Weißrussland an. Und auch die suggestive Musik von Guillermo Gonzalez und Natasha Lopez unterstreicht den melancholischen Charakter des Geschehens. Die fast 30jährige Herrschaft des Diktators Lukaschenko wirkt für die Menschen wie das Leben in einer Strafkolonie. Kafka lässt grüßen. Die Absurdität des Daseins kann nicht geleugnet werden. Es kommt immer wieder zu einer Begegnung mit der Realität des Todes. Die Erzählungen Tschechows finden Erwähnung. Sie passen sich der Zerbrechlichkeit dieser Frauen an, die das russische Lebensgefühl vermitteln. So entsteht ein Gefühl der Heimatlosigkeit, das die Schauspielerin Therese Dörr immer wieder sehr überzeugend unterstreicht. Die rote Verbindungslinie zwischen Minsk und Moskau lässt sich nicht zerschneiden: „Lenin lebt…“ Und obwohl die Sowjetunion zerfiel, lebt ihr despotischer Geist fort.
Die Video-Sequenzen von Khrystyna Dovbysh, Tetiana Humeniuk, Iryna Iusukhno, Hanna Krzheminska, Rimma Musiychuk, Iryna Scherbak, Maryna Vlasenko und Tetiana Ziubanova zeigen eine Welt der Namenlosigkeit und Trauer, die kaum Platz für Gefühle lässt: „Ich umarme dich, Polina…“ Die Video-Künstler setzen diese Passagen auf der Bühne wie ein kunstvolles Mosaik zusammen, das manchmal auch unvermittelt wirkt. Doch man bekommt einen Einblick in die russische Seele. Zuletzt hört man in einer weiteren Video-Sequenz einen ergreifenden Chor: „Meine Tochter ist im Garten, jätet Rosen…“ So entsteht ein Gefühl des Zusammenhalts in einer finsteren Zeit.
Alexander Walther