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STUTTGART/ Kammertheater: 100 SONGS von Roland Schimmelpfennig. Premiere

Scheinbar zufällige Momentaufnahmen

22.06.2019 | Allgemein, Theater


, Reinhard Mahlberg, Kathaerina Hauter, Sebastian Röhrle, Robert Roziz, Anna Maria Lux, Alexandra von Schwerin. Copyright: Björn Klein

Premiere „100 Songs“ im Kammertheater Stuttgart. Premiere am 21.6.2019

SCHEINBAR ZUFÄLLIGE MOMENTAUFNAHMEN

 Was passiert vor einer Zugexplosion? Mit dieser Frage beschäftigt sich das vielschichtige Stück „100 Songs“ von Roland Schimmelpfennig, das er im Kammertheater auch inszeniert hat. Es kommt zu verschiedenen Bewegungen und Konstellationen. Die Darsteller Katharina Hauter, Anne-Marie Lux, Robert Rozic, Reinhard Mahlberg, Sebastian Röhrle und Alexandra von Schwerin lassen die seltsame Situation auf dem Bahnsteig lebendig werden. Man fühlt sich zeitweilig wie in einer Wartehalle. Menschen drängen wie wild an den Zugtüren – und in zwei Minuten schrillt dann das Signal für die Abfahrt. Eine junge Frau rennt noch zu den Gleisen, um den Zug zu erwischen. Im Bahnhofscafe wechselt das Radio von „Don’t dream it’s over“ auf „Bette Davies Eyes“. Es sind scheinbar zufällige Momentaufnahmen, die den Zuschauer hier regelrecht überfallen. Als es 8.55 Uhr ist, fällt Sally die Tasse aus der Hand. In diesem Augenblick explodiert der Zug, was auf der Bühne jedoch leise vor sich geht. Bei „100 Songs“ wird die Geschichte immer wieder zurückgespult, Erinnerungen und Biografien der Figuren werden höchst lebendig. Sie verbinden sich im Augenblick der Explosion miteinander. Im Scheinwerferlicht wird auch die Tasse grell beleuchtet. Es erklingt „Something Stupid“ mit Frank & Nancy Sinatra. Bei den Klängen von Brahms‘ dritter Sinfonie beginnt eine Dame zu heulen. Die Musik wird immer wieder für starke Emotionen benutzt. Georg Friedrich Händels „Messias“ steht hier neben Hans Leo Haßler und Johann Sebastian Bach („Oh Haupt voll Blut und Wunden“), Katie Melua („Nine million bycycles“) und Georges Delerue („Le Grand Choral“). Iggy Pop stimmt den stimmungsvollen Song „I am the Passenger“ an, während Diana Ross „Upside down“ intoniert. Die visuellen und sinnlichen Erlebnisse gehen nahtlos ineinander über, verdichten sich und verschwinden wieder.


Alexandra von Schwerin, Reinhard Mahlberg, Katharina Hauter, Sebastian Röhrle, Robert Roziz, Anna Maria Lux. Copyright: Björn Klein

Die Kostüme von Lane Schäfer (Mitarbeit: Verena Salome Bisle) spiegeln die traumatischen Erlebnisse wider. Zuletzt werden Kleider und Gesichter in Blut getaucht. Die Komposition von Hannes Gwisdek verstärkt die elektrisierende Wirkung des Sekundentakts. Man fürchtet die Katastrophe, die jeden Augenblick hereinbrechen kann. Die Lichteffekte hätte man in der Inszenierung auch noch deutlicher nutzen können. „Wenn ich gevögelt habe, geht’s mir gut“, konstatiert einer der Protagonisten fast lakonisch. „Gleich zerreisst die Welt“, stellt ein anderer fest. Nebel kommt auf – da sitzt dann plötzlich ein Schamane auf einem riesigen Pferd. Die gläubige Stripperin und der Polizist stehen dem Geschehen fast hilflos gegenüber. Die Trillerpfeife gibt hier plötzlich das Signal für eine „Welt in Flammen“. Eine Gruppe von Fotomodellen geht durch den Zug, indische Elefanten tauchen auf und verbreiten Unsicherheit. Die Figuren lösen sich dabei auch teilweise auf und werden zur Beschreibung ihrer Selbst. Da gewinnt auch die Inszenierung eine erstaunliche Präsenz und Glaubwürdigkeit, wobei es in der Personenführung durchaus Schwachstellen gibt. Diese scheinbar zufälligen Momentaufnahmen könnten beim Zuschauer eine noch größere Wirkung entfalten, wenn die szenische Verdichtung intensiver wäre. Aber die Kernaussage des Stückes entfaltet eine starke Wirkung: „Kennst du das, wenn du das Radio anmachst, und dann läuft da dieser Song, und du musst einfach lächeln?“

Das empfanden bei der Premiere auch die Zuschauer so, denn sie applaudierten begeistert.

Alexander Walther

 

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