Copyright: Christoph Kalscheuer
Premiere „on_the_line“ der Jungen Oper Stuttgart am 1. Juni 2018 im Kammertheater/STUTTGART
DIGITALE ENTGIFTUNG IM CYBERSPACE
Dieses Stück von und mit Jugendlichen ab 12 Jahren in der fantasievollen szenischen Realisation von Severin Gmünder hat es wirklich in sich. Gefragt waren beim Casting Vertrautheit mit elektronischen Kommunikationsgeräten. Gemeinsam mit Julian Siffert (kompositorische Betreuung), Rebekka Meyer (Dramaturgie), Martin Schüttler und Elena Tzavara (konzeptionelle Mitarbeit) sowie Robert Seidel (Video) haben die Jugendlichen ihre digitalen und analogen Lebenserfahrungen in musikalischen, sprachlichen und theatralen Ausdrucksformen mit künstlerischen Mitteln zu einer reizvollen Performance entwickelt.
Die Handlungsgrundlage ist schnell erzählt. Am 6. August 2016 (25 Jahre nachdem CERN das WorldWideWeb öffentlich zugänglich gemacht hatte) wurde das Institute for Cyber Routines and Performative Research (ICRPR) gegründet. Es ist international tätig und beschäftigt 26 der führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das ICRPR gliedert sich in drei Departments, die miteinander im Wettbewerb stehen. Jedes der unabhängigen Forschungsteams untersucht mit den Mitteln der Kunst den digitalen Alltag einer Generation, der Smartphones, Tablets und Laptops in die Wiege gelegt wurden. Unter dem Titel „on_the_line“ plant der ICRPR seinen ersten Kongress von Musik und Klang im Kontext digitaler Medien. Die Reise in den Cyberspace kann beginnen, was hier durchaus spannungsvoll gelöst wird. Die Verleihung des prestigeträchtigen Preises geht zuletzt an das dritte Department mit den spannendsten und zukunftsweisendsten Forschungsergebnissen.
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Zu den Klängen von Giuseppe Verdis Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco“ sieht man bei dieser ungewöhnlichen Produktion plötzlich im babylonischen Durcheinander eine Person im Astronautenlook, die auch fähig ist, ein Handy kurzerhand zu zerlegen. Da steigt ständig die Spannungskurve. In greller Jugendsprache erklingt zwischen hitzigen Online-Kommentaren imaginärer Zuschauer die Institutshymne. Und das Gewinnerteam wird vollständig digitalisiert. Es gibt sogar einen Gutschein für 500 Freunde bei Facebook. Die Darsteller Clara Kauffmann, Daniel Beyl-Kolak, Daniel Okech, Eva Kompalka, Geraldine Guth, Greta Bauer, Iva Rajic, Julia Hauerhof, Katarina Djevic, Leander Eckhardt, Leander Hartmann, Luca Poleschol, Mathilda Petri, Melisa Sakmak, Mia Otto, Mia Schneider, Noah Kayser, Ranna Kurdi, Rebecca Weber, Robin Kümmel, Ronja Kriegshaber, Savvatula Koseglu, Sky Kammerer, Svenja Schmid, Tabea Zimmermann und Viviana Bastone gehen ganz in ihren vielseitigen Rollen auf. Sie spielen sich die Stichworte im Computergestrüpp regelrecht zu, meistern so auch Durststrecken. Da hilft ihnen die einfühlsame Regie immer wieder weiter. „Wir sind das Opernpublikum von morgen!“ lautet der selbstbewusste Slogan. Das digitale Institut der Zukunft zwischen „Tapping“ und „Swiping“ zeigt sich hier in vielen schillernden Facetten: „Wir sind die Komponisten…“ Der Entgiftungsprozess schreitet stürmisch voran. Immer wieder sprechen die Protagonisten in einem spezifischen rhythmischen Muster in die Mikrofone. Dabei wird auch das Thema Ausgrenzung angesprochen. Die Online-Experten bearbeiten ihre Homepage, die die glücklichen Gewinner schließlich ins digitalisierte und völlig computergesteuerte Weltall beamt. Man hat aber auch den Eindruck, dass an dem Projekt noch gearbeitet werden könnte. Die musikalischen Strukturen und klugen Ideen sollte man konsequent weiterentwickeln.
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Riesenapplaus.
Alexander Walther