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STUTTGART: HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN. Wiederaufnahme

Gebrochene Welten

09.02.2019 | Allgemein, Oper


Atalla Ayan (Hoffmann), Graham F. Valentine (Spalanzani), Lisa Mostin (Olympia). Foto: Martin Sigmund

Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ am 8. Februar 2019 in der Staatsoper/STUTTGART

GEBROCHENE WELTEN

 Christoph Marthaler hat die Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach als surrealistische Geschichte inszeniert, die von E.T.A. Hoffmanns Erzählungen „Der Sandmann“, „Rat Krespel“ und „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ inspiriert ist. Hoffmann und sein unglückliches Liebesleben stehen hier im direkten Mittelpunkt des Geschehens (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Joachim Rathke; Bühne und Kostüme: Anna Viebrock). Man sieht im ersten Akt einen Saal als medizinischen Salon, in dem der Physiker Spalanzani Gliedmaßen von Leichenteilen mit sich herumträgt. Die Muse will Hoffmann von seinen Gefühlen für Stella abbringen. Gleichzeitig befinden wir uns in einem Künstleratelier, wo ständig nackte Modelle porträtiert werden. Im zweiten Akt präsentiert dann der verrückte Spalanzani seinen menschengleichen Automaten Olympia, die er als seine Tochter vorstellt. Auch die Umgebung mit Tänzerinnen und Tänzern verhält sich hier bald nicht mehr normal, sondern verfällt konvulsivischen Zuckungen. Coppelius, der sich von Spalanzani finanziell betrogen fühlt, rächt sich, indem er Olympia beseitigt. Pizzicato-Passagen im Orchester korrespondieren hier mit raffinierten Lichteffekten. Im dritten Akt sehnt sich die Sängerin Antonia dann nach Hoffmann, deren Vater Krespel diese Beziehung jedoch verboten hat. Antonia möchte das Singen trotz der Bitten Hoffmanns nicht aufgeben und stirbt im wachen Zustand. Marthalers Inszenierung bietet hier eine ungewöhnliche Sichtweise. Im vierten Akt verwandelt sich dann der Saal in eine seltsam-skurrile Spielhalle mit Billardtischen, aus denen die Figuren der vergangenen Handlung emporsteigen oder einfach darin verschwinden. Die Kurtisane Giulietta soll den traumatisierten Hoffmann seines Spiegelbildes berauben. Schon zuvor hat sie im Auftrag des zwielichtigen Dapertutto Schlemihl dazu überredet, ihr seinen Schatten zu überlassen. Schlemihl ist nun in heftiger Weise eifersüchtig auf Hoffmann, was die subtile und weiträumige Inszenierung überzeugend herausarbeitet. Als Schlemihl die Herausgabe des Schlüssels zu Giuliettas Kammer verweigert, wird er von Hoffmann getötet. Dies geschieht, indem er in den Billardtisch gestoßen wird.

Die Inszenierung von Christoph Marthaler verblüfft das Publikum hier immer wieder mit wirklich ungewöhnlichen Einfällen und eindrucksvoll gebrochenen Welten. Am Schluss kann Hoffmann Olympia, Antonia und Giulietta nicht mehr voneinander unterscheiden und liegt bewusstlos auf dem Billardtisch. Marthaler zeigt bei dieser Arbeit seinen großen Sinn für die labyrinthische Architektur. Er beschreibt kunstvoll die Gleichzeitigkeit geistiger und künstlerischer Produktivität. Liebeszustände und Leidenschaften unterschiedlichster Art führen hier zur absoluten Überforderung und Überreizung. Hoffmann leidet unter einem Übermaß an Sehnsüchten, was die Personenführung gut herausarbeitet. Er lässt sich von den Kneipenbesuchern an der Bar ablenken und fantasiert mit Hilfe von Alkohol wild über seine Liebesaffären. Zeit- und Raummaße verschwimmen dabei in raffinierter Weise oder ergänzen sich gegenseitig. Das zeigt sich in vielen suggestiven Szenen und Bildern. Hoffmann ist Mitglied geworden in einem imaginären „Circulo de Bellas Artes“. In den einzelnen durchaus surrealen und unheimlichen Szenen wird er dann von weiteren Personen begleitet, die wie seltsame Geister seines Gewissens agieren. Das Fantastische und Gespenstische könnte man hier sogar hinsichtlich der Regie noch weiter steigern.


Olga Busuioc (Antonia). Foto: Martin Sigmund

Der Dirigent Marc Piolett unterstreicht zusammen mit dem feinnervig musizierenden Staatsorchester Stuttgart in dieser interessanten Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid die zahlreichen dynamischen Kontraste von Offenbachs vielschichtiger Partitur. Die wenigen Takte der einleitenden Musik kommen geradezu atemlos daher. Deren Thematik wiederholt sich in der ganzen Oper nicht. Die Sängerinnen und Sänger betonen bei ihrer Interpretation in plastischer Weise, dass die meisten Solostücke dieses Werkes Couplets sind, also Arien in Strophenform mit Refrain. Dies betrifft vor allem die facettenreiche Ausgestaltung der formalen Strukturen, wo diese Wiedergabe kaum Wünsche offenlässt. Gerade der parodistische Einschlag bei der Arie der Olympia Nr. 9 mit der exzellenten Koloratursopranistin Lisa Mostin lässt den beispiellosen Zauber der Girlanden, Arabesken und Figurationen bei Offenbachs Musik hier in beglückender Weise aufblühen. Die kontrastreichen Momente expressiver Dramatik triumphieren dann als Stimmungskontrast bei Hoffmanns Lied von Kleinzack, wo der strahlkräftige Tenor Atalla Ayan die blühende balladenhafte Melodik ausgezeichnet herausstellt. Auch das Finale des Antonia-Aktes besitzt bei dieser Aufführung eine brillant-betörende Wirkungskraft. Die dämonische Magie des Dichters E.T.A. Hoffmann lebt zudem beim Stimmungs- und Blickwechsel des gespenstischen Giulietta-Aktes weiter. Die voluminöse Sopranistin Olga Busuioc gestaltet die Doppelrolle als Sängerin Antonia und Kurtisane Giulietta mit hinreissender Melodik und betörender gesanglicher Leuchtkraft, die sich ständig steigert. Dies zeigt sich auch beim Triller der sterbenden Antonia. Überhaupt gehören die gewaltigen Crescendo-Steigerungen zu den wirkungsvollsten Momenten von Marc Piollets harmonisch packender Wiedergabe mit dem Staatsorchester Stuttgart. Hinzu kommt, dass auch der von Bernhard Moncado sorgfältig einstudierte Staatsopernchor Stuttgart hier hervorragende Arbeit leistet. Als krächzender Spalanzani bietet Graham F. Valentine eine Glanzleistung. Die weiteren Sänger Angela Brower als Nicklausse, Adam Palka als Lindorf, Coppelius, Dapertutto und Miracle, Kai Kluge als Andres, Cochenille, Pitichinaccio und Franz, Altea Garrido als leidenschaftliche Stella, Maria Theresa Ullrich als bewegende Stimme der Mutter, Moritz Kallenberg als verzweifelter Nathanael, Pawel Konik als Hermann, Andrew Bogard als Schlemihl und Matthew Anchel als Luther und Crespel verfügen allesamt über ein breites Spektrum an eindringlicher musikalischer Charakteristik und verschiedenartigen gesanglichen Stimmungsreizen. Der Geist der französischen Opera comique beherrscht durchaus den Olympia-Akt. Auch die kunstvolle Aura der deutsch-romantischen Oper blitzt bei der Antonia-Handlung durch. Bei der vermeintlich idyllischen „Barcarole“ spürt man gleichzeitig das Schreckliche, das hinter der verführerischen Szene lauert. Zuweilen wünscht man sich bei dieser Inszenierung eine noch deutlichere Präsenz dämonischer Wirkungskräfte.

Die Tänzerinnen und Tänzer Veronica Garzon, Alexandra Mahnke, Miriam Markl, Lena Schattenberg, Maja Vasic, Joaquin Abella, Haizam Fathy und Antonio Jimenez beleben die Szene in der plastischen Choreografie von Altea Garrido ungemein. So gab es für diese Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid begeisterten Schlussbeifall.

Alexander Walther      

 

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