Gauthier Dance Stuttgart: „INFINITY“ 6.5. 2015 (Premiere 30.4.2015) – Dem Chef blieb nur der Ober
Die Terminierung der Premiere des neuesten Programms von Stuttgarts zweiter Tanz-Compagnie auf den gleichen Tag wie die jüngste Wiederaufnahme beim Stuttgarter Ballett rief im Vorfeld einiges an Unverständnis hervor, doch die Sorgen gegenseitiger Konkurrenz um den Kartenverkauf blieben unbegründet. Die Tanzbegeisterung in Stuttgart ist so groß, dass sie mühelos an einem Abend zwei große Häuser füllt, aber auch die neun nachfolgenden En suite-Vorstellungen waren alle bald ausverkauft. Eric Gauthier kann auf sein Kind zurecht stolz sein, das sich mittlerweile zu einem gestandenen Mann in der Tanzlandschaft entwickelt hat. Die Vergrößerung des Ensembles von anfänglich 6 auf inzwischen 15 Tänzer/Innen ermöglicht natürlich die Abdeckung eines erweiterten Repertoires, und der Erfolg und die Außenwirkung von Gauthier Dance wird nun beständig auch mit den großen Namen belohnt, die dem Unternehmen Aufführungsrechte überlassen. Wichtig ist aber allemal eine gute Mischung, und die war diesmal mit Choreographien aus gleich mehreren Generationen besonders farbenreich. Mit der Betitelung des Programms wurde das bisherige Zahlenspiel fortgesetzt, und die an der Reihe befindliche 8 findet sich in liegender Form im Zeichen für die Unendlichkeit (Infinity).
Acht Choreographien, die Hälfte davon Uraufführungen, drei Pas de deux, ein Trio, die weiteren in voller Besetzung – für Vielfalt war gesorgt. Bevor Eric Gauthier seine wie immer gut gelaunt und lockere Begrüßung und Programmvorstellung ans Publikum richtete, bot Charles Moulton in „INFINITE SIXES“ für ein kurzes effektives Geschicklichkeitsspiel, wie wir es bereits aus „Ball Passing“ des Amerikaners kennen. Ein choreographisches Perpetuum mobile, dessen absolute Gleichheit und Synchronisation verlangende beständige Richtungswechsel flatternder Arme, winkender Hände, wechselnder Positionen auf drei ansteigend hintereinander lagernden Podesten, kurzer Soli vor der Gruppe und schnellen Hebungen voller mitreißender Energie stecken. Rhythmische elektronische Musik greift alldem zusätzlich unter die Arme. Für eine aufgeheizte Stimmung war damit schon einmal gesorgt.
Geheimnisvolle Goya-Gemäldebelebung: Anna Süheyla Harms und Ensemble. Foto: Regina Brocke
Die Niederländerin Nanine Linning, seit einigen Jahren für die erfolgreiche Wiederbelebung des Tanztheaters in Heidelberg viel gelobt, beschäftigte sich in „THE BLACK PAINTING“ mit der Verlebendigung des düsteren Goya-Gemäldes „Saturn verschlingt seinen Sohn“. Lemurengleich umschwirren Gestalten in höfisch schweren schwarzen Kleidern drei sich auf Podesten langsam empor räkelnde Tänzerinnen – ein geheimnisvolles Ineinandergreifen von teils zeitlupenartigen Phasen und fließend schnellen Motionen, das von der metaphysisch strengen Musik Arvo Pärts und aus der Dunkelheit heraus leuchtenden Lichtquellen entsprechend unterstützt wird.
Von schwimmenden Seerosen hat sich der Taiwanese Po-Cheng Tsai für den Pas de deux „FLOATING FLOWERS“ inspirieren lassen. Ein raffinierter bodenlanger weiter weißer Reifrock verbirgt zunächst die darunter kauernde Tänzerin, ehe sie sich aufrichtet und den Partner plötzlich ganz groß wirken lässt – eine gelungene Überraschung. Aus einem stetigen Bewegungsfluss entstehen Bilder, die immer wieder an im Wasser gleitende Blumen erinnern. Die körperliche Verquickung des Paares erfordert dabei viel Gleichgewichtssinn. Die kleine und vive Garazi Perez Oloriz und der große Maurus Gauthier erfüllen dieses zauberhafte Stück noch zusätzlich mit einer Prise Humor. Kein Wunder, dass diese ungewöhnlich poetische und innovativ frische Kreation 2014 beim Choreographen-Wettbewerb in Hannover den 1. Preis und den Publikumspreis gewonnen hat.
Luke Prunty als Teil des ironischen Trios mit Sex-Appeal. Foto: Regina Brocke
Der Ex-Stuttgarter Tänzer Alejandro Cerrudo hat sich mittlerweile zum Hauschoreographen von Hubbard Street Dance Chicago hoch gearbeitet. Auch mit seinem zweiten bei Gauthier Dance präsentierten Werk „PACOPEPEPLUTO“ begeisterte er nun mit dem Zusammentreffen von Ironie, Sexappeal und fast nackter Präsentation, die er den wechselnden Soli der drei allesamt auf ihre Art wirkenden Jungs Luke Prunty, Florian Lochner und Rosario Guerra zu Evergreens von Dean Martin einverleibt hat.
Auf neue, Tanz und Theater verschmelzende Weise nimmt Johann Inger in seinem Pas de deux „NOW AND NOW“ unterschiedliche Stationen einer (Liebes-)Paar-Beziehung unter die Lupe. Der durch zahlreiche Gastspiele des Nederlands Dans Theaters inzwischen sehr bekannt gewordene Schwede arbeitet dafür mit viel Blickkontakt und Bodenhaftung, wobei das Paar sich im Laufe der Begegnung mehr und mehr seiner schwarzen Kleidung entledigt. Anna Süheyla Harms und Florian Lochner sind dafür die beiden idealen persönlichkeits-gefestigten Interpreten.
David Rodriguez und Sandra Bourdais: Teil einer kuriosen Uniform-Revue. Foto: Regina Brocke
In die Schublade des Kuriosen gehört die zweite für die Compagnie entstandene Arbeit des Spaniers Cayetano Soto. Zu diversen französischen und spanischen Chansons schickt er die Gruppe in grauem, Schuluniformen ähnlichem Habit mit Shorts und Schirmmützen sowie schwarzen Kniestrümpfen in „CONRAZONCORAZON“ auf körperlich offensive Weise ins Rennen um die Publikumsgunst. Die verschiedenen Ausbrüche aus dem Gruppen-Gleichschritt sorgen selbstverständlich für so manches Amusement.
Nett, anschaulich, anrührend und bewegend erzählt Alexander Ekman die Episode eines jungen Paares zu einem Chopin-Nocturne. Das mit viel Phantasie eingesetzte neoklassische Bewegungsmaterial wird von Anneleen Dedroog und Rosario Guerra mit so mancher humorvollen Pointe aufgeladen, ehe im finalen Überraschungsmoment eines von oben in die Arme des Mannes fallenden Nachwuchses der Titel „TWO BECOME THREE“ seine Erfüllung findet.
Black Cake. Van Manen/ Gauthier-Dance. Foto: Regina Brocke
Als große Auszeichnung für die Leistungsfähigkeit von Gauthier Dance darf die weitere Überlassung einer Kreation von Altmeister Hans van Manen gewertet werden. Die 25 Jahre seit der Entstehung sind „BLACK CAKE“ in keinem Moment anzusehen. Die zuerst in geordneten Bahnen verlaufende Party einer Cocktail-Gesellschaft zu ausgelassenen und verhaltenen Kompositionen von Tschaikowsky, Janacek, Strawinsky und Mascagni mündet zu Massenets Violin-Meditation aus „Thais“ unter der Einwirkung von reichlich Champagner-Genuss in eine Katerstimmung mit Zeichen der Verärgerung über den zunächst ausbleibenden Nachschub des Königs aller Weine. Van Manen erzielt durch den Einsatz von köstlich schräger Mimik einen herrlichen Kontrast zu seiner davor gewohnt kühl formellen und doch so lebensnah menschlichen Sprache. Herrliches Futter für die TänzerInnen von Gauthier Dance, die hier auch ihre schauspielerischen Begabungen ausleben dürfen. Eric Gauthier verbleibt hier als ganz trocken Champagner servierendem Ober der einzige Auftritt des Abends – die Ausweitung seines Ensembles sowie das unmittelbar bevorstehende, von ihm organisierte Tanzfestival „Colours“ belassen ihm verständlicherweise keine Zeit mehr seiner tänzerischen Seite zu frönen.
Das Publikum sparte wie gewohnt nicht mit Begeisterung und Getrampel für diesen vielseitigen Abend, der im Prinzip als Vorab-Beitrag von „Colours“ gewertet werden könnte.
Udo Klebes