„Eugen Onegin“ von Tschaikowsky in der Staatsoper Stuttgart ZEIT DES WANDELS
Trotz des gelegentlich vielleicht doch zu unromantischen Bühnenbildes vermag auch der zweite Akt durchaus zu fesseln, in dem Tatjanas Namenstag in der neu errichteten Appartement-Anlage gefeiert wird. Onegin bereut es hier schnell, der Einladung Lenskis gefolgt zu sein, und der wieder einmal exzellente Staatsopernchor (Einstudierung: Christoph Heil) wird sehr stark in die Handlung eingebunden. Onegin macht Olga den Hof, deswegen fordert der eifersüchtige Lenski Onegin zum Duell. Dieses Duell, bei dem Lenski stirbt, gerät in Waltraud Lehners Regie zu einem endlosen Alptraum, denn die Protagonisten begehen dabei Selbstmord beziehungsweise versuchen sich mit Kopfschüssen umzubringen. Fiktion und Realität vermischen sich – ein guter Einfall. Im dritten Akt trifft Eugen Onegin in einem exklusiven Skiressort überraschend Tatjana wieder, die inzwischen mit dem Fürsten Gremin (facettenreich: Liang Li) verheiratet ist.
Im Hintergrund wird die Bühne von Skifahrern beherrscht, es schneit – man merkt, dass das gesamte Bühnenbild eigentlich von Anfang an ein riesiges Gletschergebirge war. Das wirkt irgendwie unheimlich und fesselt die Zuschauer. Onegin erklärt Tatjana in einem heftigen Ausbruch seine Liebe, doch sie weist den Verzweifelten wegen ihres Mannes ab. Die Inszenierung endet so in grell-wuchtigen Bildern.
Insgesamt ist die Aufführung aber musikalisch noch überzeugender wie das visuelle Geschehen. Flöte, Klarinette und Oboe begleiten die Singstimme aufgrund des einfühlsamen Dirigats von Simon Hewett mit nie nachlassendem Elan. Simon Hewett unterstreicht mit dem Staatsorchester den leichten und beweglichen harmonischen Apparat. Es gestaltet Tatjanas Liebesmotiv beim zarten Orchestervorspiel höchst sensibel. Seelische und landschaftliche Stimmungen werden dabei einfühlsam eingefangen. Tänzerische Zwischenspiele und Folklore bis hin zu Anklängen an orthodoxe Motive sind herauszuhören. Das geheimnisvolle Drängen bis hin zum harmonischen Werden und Reifen der Empfindung trifft der Dirigent Simon Hewett sehr überzeugend, er vermag die Musiker immer wieder neu anzuspornen. Die festlich-rauschhafte Polonaise, der robuste Chor der Landleute, Triquets humorvolles Couplet (bei dem Heinz Göhrig eine Glanzleistung bietet) und vor allem Lenskis ergreifender Abschied vom Leben geraten zu unvergesslichen Höhepunkten. Die Stimmen der beiden verfeindeten ehemaligen Freunde Lenski und Onegin steigern sich im kanonischen Duett zu aufregender Intensität – und auch Gremins mit großen Bögen aufwartende Basskantilene bei der Arie „Ein jeder kennt die Lieb‘ auf Erden“ besticht durch elektrisierendes Pathos. In weiteren Rollen gefallen ferner Renee Morloc als Amme Filipjewna, Ashley David Prewett als Saretzki, Sebastian Peter als Hauptmann und Alexej Shestov als Vorsänger. Dabei sticht vor allem Helene Schneiderman als Gutsbesitzerin Larina hervor, die den Streit zwischen Lenski und Onegin vergeblich zu schlichten versucht. Ihr gesanglicher Klangfarbenreichtum und ihr weiches Timbre beeindruckten das Publikum ebenso wie die wunderbar geschmeidigen Kantilenen der Tatjana von Rebecca von Lipinski. Der reiche Fluss der Melodien verschmilzt hier ganz mit den prachtvollen Arien in den Partien der Tatjana, des Lenski und des Gremin. Die elegische Stimmung schimmert oftmals durch, auch wenn die charakteristische Plastizität einzelner Figuren und Momente zu verschwimmen drohen. Hier leistet Simon Hewett mit dem Staatsorchester Stuttgart akribische Arbeit. Auch die beiden Quartette des ersten Aktes offenbaren bei dieser weitgehend konzentrierten Wiedergabe poetische Wahrheit. Und die fast kammermusikalische Atmosphäre kommt nuancenreich zum Vorschein. Simon Hewett hält sich glücklicherweise immer wieder zurück, so kommt die feine Dynamik Tschaikowskys nicht aus der Balance und die Musik gerät nicht zu laut. Der notwendige mezzoforte-Bereich wird nicht vernachlässigt. Die Artikulation der Streicher, die Homogenität der Holzbläser und der nicht allzu harte Klang des Blechs vermischen sich mit den klanglich sensiblen Pauken-Einsätzen. So bleibt die thematische Bindung transparent.