Stuttgarter Ballett: „CRANKO KLASSIKER“ 5.4.2016 (Neueinstudierung) – ein fast unbeschwertes Vergnügen
Zur 40 Jahr-Jubiläumsspielzeit des Stuttgarter Balletts 2001/02 waren John Crankos frühe Einakter zum letzten Mal zusammen auf der Bühne zu sehen, jetzt wurden die beiden sich so gut als Zwillingsgespann eignenden Werke im 20.Jahr von Reid Andersons Intendantenzeit als diverse Höhepunkte seiner Amtszeit wieder einstudiert ( dazwischen war ersteres jedoch als Aufführung der Cranko-Schule, zweiteres in anderer Kombination zu sehen).
Manche mögen diese Frühwerke für oberflächlich und entbehrlich halten, vergessen dabei aber, wie wichtig sie sind, um sowohl zu sehen, welche Entwicklung der Choreograph bis zu seinen reifen Hauptarbeiten vollzogen hat, als auch welche grundsätzlichen Anlagen seiner Kunst bereits damals vorhanden waren. Und dazu gehört ohne Zweifel sein Talent, einem Publikum ohne Vorkenntnisse eine Geschichte in Choreographie und Schauspiel verständlich zu machen und seine intuitive bis in kleine Gesten reichende Musikalität.
Überragend in „Pineaplle Poll“ – Robert Robinson als Captain mit Poll (Fernanda De Souza Lopes, rechts aussen) und den Matrosinnen. Copyright: Stuttgarter Ballett
Im Falle von „PINEAPPLE POLL“ ist es eine in ihrer quietschbunten Ausstattung zwischen Stadtzeile, Hafen und Schiffsdeck sowie in Karo, Linien und Punktmustern gehaltenen Kostümen ( Osbert Lancaster ) nicht jedermanns Geschmack treffende, im Zusammenwirken mit der aus verschiedenen Operetten von Arthur Sullivan seitens des renommierten Dirigenten Sir Charles Mackerras arrangierten Musik urenglische Angelegenheit. Die Geschichte handelt von dem einfachen Mädchen Poll, das vom Schankburschen Jasper begehrt wird, aber nur Augen für den stattlich uniformierten Captain Belaye hat und sich mit einigen anderen Hingerissenen als Matrosen verkleidet bei ihm anheuert. Doch dieser ist ganz auf die großbürgerliche Blanche fixiert. Als er jedoch zum Admiral graduiert, bekommt Jasper kurzerhand die Kapitänsuniform umgehängt. Poll ist versöhnt und so sieht das Ende zwei Paare. So einfach ist das auf dem Theater.
In einigen dankbar angelegten Ensemble-Sätzen mit viel flinkem Beineinsatz hat das zur Gänze aus Cranko-Schülern der Akademieklasse B besetzte Corps de ballet Gelegenheit zu zeigen, wie Crankos Erzählweise bereits damals gleichermaßen aus Tanz und Schauspiel gespeist wurde, so z.B. wenn die Mädchen beim Erscheinen des Kapitäns der Reihe nach drohen in Ohnmacht zu fallen und sich bei ihren Versuchen dem Objekt ihrer Bewunderung zu nähern von ihren Partnern zurück gehalten werden ( im anderen Stück wird die Situation die umgekehrte sein, da halten die Damen ihren Partnern die Hände vor die Augen um ihnen die begehrlichen Blicke auf die Lady zu nehmen).
Neben der kessen und von Fernanda De Souza Lopes ohne übertriebene Mimik erfrischend natürlich gespielten und sich leicht auf Spitze bewegenden Poll stand Robert Robinson rollengemäß als Captain im Mittelpunkt. Er hatte ihn bereits als Cranko-Schüler getanzt und überragte jetzt mit seiner Körpergröße, seinem inzwischen zum Solisten gereiften Potenzial (große weite Drehungen und irrsinnig flinke Beinvirtuosität im von Seemannstänzen inspirierten Solo) sowie köstlichem Witz und sichtbarem Spaß und Verständnis des geborenen Engländers das Geschehen.
Adhonay Soares Da Silva brachte Jaspers schüchternes und dahinter doch verstohlen um seine Liebe kämpfendes Wesen mit einfühlsamem Körpereinsatz als Charakter gut zur Geltung. Rocio Aleman zeichnete Blanche als abgehobenes Mädchen passend exaltiert und leicht marionettenhaft, und Elena Bushuyeva sorgte als deren nervig um sie bemühte Tante Mrs.Dimple nicht nur für so manche komische Situation, sondern auch für das Happy End und wird dafür mit der englischen Fahne um den Körper gewickelt auf Händen getragen und im Kreis geführt bis der Vorhang fällt.
Alicia Amatriain (Lady) im Wettstreit mit den drei Anbetern (Pablo von Sternenfels, Daniel Camargo und David Moore v.l.). Copyright: Stuttgarter Ballett
Mit ebenso viel Geschick hatte Mackerras auch Themen aus frühen Verdi-Opern für Crankos 1954 entstandenen Einakter „THE LADY AND THE FOOL“ arrangiert und als Stimmungsträger für den Aufeinanderprall von Upperclass-Arroganz und wahrer Menschlichkeit eingesetzt. In der im Prinzip einfachen Geschichte einer des immerwährenden Glanzes überdrüssigen Schönen, die durch die Begegnung mit zwei armen Clowns aus der Gosse ihre tieferen Gefühle entdeckt und ihrem früheren Leben entsagt, hat Cranko sein Können an intuitiver Entwicklung von gegensätzlichen Charakteren bereits zu einem Markenzeichen seiner Kunst gemacht. Z.B. stattete er die drei um die Lady scharwenzelnden höher gestellten Herren mehr als mit nur dekorativem choreographischem Futter aus. Oder er lässt die beiden Clowns in einem liebevoll aufgebauten Pas de deux selbst zu Konkurrenten um eine Rose werden, ehe sie erkennen, dass Besitz allein nicht glücklich macht. In dieser einer der beiden Kernszenen wird am deutlichsten, worin sich Rollen-Neuling Constantine Allen als Moondog und der rollenerfahrene Louis Stiens als kleinerer Bootface nicht auf Augenhöhe begegnen. Bleibt bei ersterem trotz aller Detailgenauigkeit und ansprechender Umsetzung die Aussage an der Oberfläche, so wird bei zweiterem auch die Träne hinter dem heiteren Element sichtbar. Stiens braucht gar nicht viel zu machen, da genügen ein paar Blicke, um das Mitleid zu suggerieren, das er als Benachteiligter der Beiden auch verdient hat. Im Pas de deux ist Allen der charmante, in Größe und feiner weicher Linie attraktive Partner, der mit Alicia Amatriains vor allem in technisch superber Balance gehaltener Lady bestens harmoniert, während ihr der Wandel der schutzbedingt Maskierten mehr gespielt als empfunden gerät.
Von ihren drei Anwärtern setzt sich Pablo von Sternenfels als überheblicher Gastgeber Signor Midas durch effektiv akzentuierte und gesteigerte Drehungen, hinter denen der Ehrgeiz des jungen mexikanischen Solisten wieder einmal fast greifbar wurde, trefflich in Szene. Daneben imponierte Daniel Camargo als begehrter Capitano Adoncino in schmucker Offiziers-Uniform und mit der kraftvollen und doch so leichten Motorik seiner Ketten von Endlos-Drehungen. Und David Moore beginnt nach seiner Verletzungspause als hochnäsiger Prinz von Arronganza mit elegantem und stilvollem Schwung wieder Fahrt aufzunehmen.
Ami Morita und Rocio Aleman stechen als hochzeitswillige Damen in ihren bunten Pastellkleidern aus dem vor einigen Jahren von der Jürgen Rose-Schülerin Astrid Behrens neu konzipierten schlichten Bühnenraum und Kostümen hervor. Auch das Corps de ballet ist in Cranko’scher Manier zweifach gefordert: als in klassischen Formationen gehaltene und sich gleichzeitig snobistisch verhaltende Gesellschaft.
Georgette Tsinguirides hatte mit den Ballettmeistern wieder Crankos Vorgaben überwacht und doch auch neue Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt.
Wolfgang Heinz steuerte das Staatsorchester Stuttgart mit viel Animo durch den melodienreichen, mal nachdenklichen, mal vorwärtsdrängenden Abend.
Eine willkommene Ergänzung im breiten Repertoire und für den Nachwuchs in der Compagnie und nicht zuletzt ein lehrreiches Programm in Sachen Cranko.
Udo Klebes