Stuttgarter Ballett „THE LADY AND THE FOOL“ / „GAITÉ PARISIENNE” 16.5. 2012– Facheroberung
Brillanter Nachwuchs-Bim: Daniel Camargo (mit Katarzyna Kozielska). Copyright: Stuttgarter Ballett
Obwohl sie mit eiserner Disziplin auch im fortgeschrittenen Ballerinenalter derzeit noch die großen Hauptpartien ihres Repertoires bestreitet und damit für besonders erfüllte Aufführungen garantiert, hat Sue Jin Kang nun einen ersten Schritt ins Charakterfach unternommen. Als Madame in Béjarts versponnen sinnlicher Paris-Revue tritt sie direkt in die Fußstapfen von Marcia Haydée – Stuttgarts einstiger Star-Tänzerin, die sie während ihrer Zeit als Ballettdirektorin ins Corps de ballet engagiert hatte. Recht forsch, etwas zum Schreien und zur Übertreibung neigend gerät ihr erster Auftritt, wenn sie dem Ballettschüler Bim die Lektion zum „Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten“ erteilt, damit aus ihm etwas wird. Von mal zu mal taucht sie tiefer in diese etwas verschrobene, in ihrer gleichzeitigen Einfühlsamkeit dennoch sehr menschliche Figur, gibt ihr mit künstlerischer Intuition autoritäres Gewicht wie auch durchscheinende seelische Inspiration. Während sich bei der Behandlung des Textes noch manche Heftigkeit abschleifen und einige Akzente verfeinern und setzen müssen, wird sie diesem Charakter ebenso als Mutterrolle im übertragenen Sinn wie dem immer noch sichtbaren Profil einer Tänzerin schon jetzt vollkommen gerecht. Das tut auch Daniel Camargo – wahrlich der Bim unter Stuttgarts stolzer männlicher Parade mit Solisten-Potential. Seine Körpergröße kaschiert er in diesem Part mit passend kindlicher Attitude und Neugier, lebhafter und dabei immer natürlicher mimischer Beteiligung und warmherziger Ausstrahlung. Wie er technische Perfektion mit effektiver Sprungkraft und virtuos tollpatschiger Beherrschung misslingender Übungsformen auf den Punkt bringt, zeigt ihn auf dem zielsicheren Weg auf die höchste Hierarchiestufe.
Als Neubesetzungen sind in dem bunten phantasievollen Reigen zu Offenbachs moussierenden Klängen noch Katarzyna Kozielska als pfiffig musikalisches Mädchen in Weiss und der bei technischer Solidität etwas spröde wirkende Roman Novitzky als Märchenkönig Ludwig II. zu erwähnen.
In Crankos zu Herzen gehendem Einakter einer Liebe zwischen einer reichen Schönen und einem armen Straßenclown ist nun Marijn Rademaker als blasierter Gastgeber des hohl glanzvollen Balles getreten. Viele kleine Gesten der Überheblichkeit zeugen wieder einmal von der schauspielerischen Auffassungsgabe des Holländers, verbunden mit einer ausgewogenen Technik zwischen purer Kraft und leichter Abfederung der zahlreichen Drehungen seines Parts. Damit vervollständigte er die hier wieder angetretene Besetzung der Wiederaufnahme-Premiere vom 21. April – die mit Alexander Jones als Offizier, Evan McKie als Prinz, Friedemann Vogel als Moondog, Sue Jin Kang als Lady und dem eine Welle der besonderen Sympathie entgegenschlagenden Arman Zazyan als Bootface auf breiter Basis vor allem auch den technischen Herausforderungen am deutlichsten gerecht wird. Dass sich dieses anspruchsvollere der beiden Stücke jedes Mal mit kürzerem Applaus begnügen muss als das andere, mag mit der Platzierung vor der Pause begründet sein, stimmt aber dennoch auch etwas traurig.
Udo Klebes