Stuttgarter Ballett: „KRABAT“ 22.3. 2013 (Uraufführung) – Selbstlose Liebe contra Magie und Macht
Rademaker. Der Meister und seine (Raben-)Gesellen. Foto: Stuttgarter Ballett
In Reih und Glied stehen die Gesellen beim Öffnen des Vorhangs ganz vorne am Bühnenportal, verwandelt in Raben mit weiten schwarzen Flügeln. Krabat kommt hinzu und wird vom Meister mit beschwörenden Gesten wie hypnotisch auf sein Dasein in der Mühle vorbereitet. Dieser Vorgang steht am Beginn jeder der drei Akte, die die drei Jahre des zugrunde liegenden Buches markieren. Im zweiten stößt der Bettlerjunge Witko hinzu, im dritten das Waisenkind Lobosch. Umhüllt sind diese zeremoniellen Auftakt-Szenen durch unheimlich dräuende, flirrend hohe Streicherklänge.
Diese Bannung des Zuschauers über die volle Spieldauer von 2 Stunden durch alle Situationen hinweg aufrecht zu erhalten, ist der allergrößte Verdienst der Choreographie. Demis Volpi, seit 2004 im Corps de ballet und inzwischen mit zahlreichen schöpferischen Arbeiten hervorgetreten, bekam für sein erstes abendfüllendes Handlungsballett den Auftrag, einen Stoff zu finden, der auch junges Publikum anspricht. Die Geschichte Krabats, der sich als Mühlengeselle verdingt, den faszinierenden Verlockungen des Geheimnis umrankten Meisters folgt und aufgrund des Todes zweier Kameraden zu Auflehnung und Überwindung der bösen Mächte durch die selbstlose Liebe zu der schönen Kantorka findet und darüber hinaus allen Gesellen zur Freiheit verhilft, erschien ihm trotz der Ansiedlung zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und mit eigenen Erlebnis-Zutaten des Autors (Otfried Preußler ist tragischerweise knapp 5 Wochen vor dieser Premiere gestorben) als ein alle Zeiten überdauernder und letztlich alle Generationen bedienender Hymnus auf die Kraft des eigenen Willens und alles überstrahlender Liebe.
Die sehr viel Phantasie erfordernde Schaffung einer bühnentauglichen Fassung stieß bei Volpi als außergewöhnlich intuitivem Talent auf den denkbar fruchtbarsten Boden, so sehr ist über den ganzen Verlauf zu spüren, in welch hohem Maße der 27jährige Deutsch-Argentinier alle für die Entstehung eines solchen Gesamtkunstwerkes erforderlichen Abteilungen des Theaters für dieses Projekt einzubinden und zu begeistern wusste. Da greifen Choreographie, Bühnenbild, Kostüme, Licht und Musik so lückenlos ineinander, dass es schwer fällt, worüber die größte Begeisterung zu richten ist. Letztlich laufen jedoch alle Fäden beim Choreographen zusammen, der in Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Vivien Arnold ein Libretto geschaffen hat, das die zum Verständnis wesentlichen Stationen der Handlung berücksichtigt und auf den Punkt bringt.
Der todbringende Herr Gevatter in Frauengestalt – Sue Jin Kang. Foto: Stuttgarter Ballett
Gewaltig viel atmosphärische Unterstützung liefert der Bühnenraum von Katharina Schlipf – eine rundum meterhoch von hunderten Getreidesäcken eingenommene Spielfläche, hinten in der Mitte galerieartig erhöht. Für die beiden Szenen außerhalb fällt davor ein schleierartiger Vorhang mit kontrastreichen braun-gelb-grünen Natur-Motiven herab, die sich auch in den luftigen Kleidern der Mädchen wiederfinden. Ein Lichtblick gegenüber den beigen Kniebundhosen und armfreien Hemdchen der Gesellen, dem wehend langen schwarz-goldenen Mantel des Meisters und der mit dämonisch rot glühendem Fischschwanz auslaufenden, schulterfreien Glitzerrobe des Herrn Gevatters. Wie diese aus der Dunkelheit herausleuchtet und dann erst die ganze mephistophelische Gestalt freigibt – ist nur einer von vielen magischen Momenten dieser Produktion. Sue Jin Kangs körperliche Ausstrahlung, bei der eine geringe Bewegung wie das Spreizen der krallenartigen Hände ein Maximum an Ausdruckstiefe erzielt, tut noch ein Übriges, diese todbringende Gestalt mit Hahnenfeder, die jedes Jahr vom Meister das Leben eines Gesellen fordert und dafür den Leichensack herbeizaubert, zum Hochspannungsträger jedes Aktes zu machen. Wenn sie zuletzt noch den kahlen Kopf des besiegten Meisters in die Hand nimmt und ihn mit einem Wurf zertrümmert, während der restliche Körper mitsamt Mantel wie von Zauberhand vom Boden verschluckt wird, stockt fast der Atem. Solche technischen Tricks ( Andreas Meinhardt ) sind ein wesentlicher Bestandteil der Aufführung. Wie sich plötzlich einzelne Säcke selbstständig machen, ein Band durch die Luft geflogen kommt, der Koraktor (Zauberbuch) von unten herauffährt oder der im Kampf mit dem als Zauberer bekannten Wandergesellen Pumphutt ( Angelina Zuccarini gibt ihm in ständig wechselndem Gewand und blitzartig funktionierender Beinarbeit schnittig herausforderndes Profil ) unterliegende Meister mit geschrumpften Beinen zurück bleibt – des Staunens gibt es kein Ende.
Auch nicht über die Musik, die obwohl klangcharakteristisch drei Ebenen bedient, wie aus einem Guss zusammengesetzt erscheint (Krzysztof Penderecki steht mit teils bohrend aggressivem Tonfall für die dunkle quälende Seite, Philipp Glass’ einkreisende Wiederholungs-Maschine für die Magie und Verführung, der anwesende Péteris Vasks für die Hoffnung, das Licht und die Liebe). Eine vielfältige, vor allem für die Streicher und das solistisch eingesetzte Streichquartett lohnende Aufgabe, die das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von James Tuggle mit eindringlicher Wiedergabe einlöst. Dazu kommen zur Verdichtung der Authenzität des Ortes die tontechnisch verarbeiteten Geräusche einer arbeitenden Mühle, die 2012 in der nahe Stuttgart gelegenen Mäulesmühle aufgenommen wurden. Die Szenen der von Kantorka als Vorsängerin angeführten Mädchen werden vom Kinderchor der Staatsoper mit Solistin Quan Zhou stimmungsmalerisch aus dem Hintergrund begleitet.
Das größte Erstaunen ruft indes der choreographische Ideenreichtum hervor, den Volpi wie ein Füllhorn vor dem Publikum ausschüttet. Wie er dabei seinen eigenen unverwechselbaren Stil, der virtuos mit den klassischen Grundpfeilern arbeitet und diese erweitert, immer in den Dienst der jeweiligen Handlungssituation stellt, zeigt wie sicher und unbeirrt er sich inzwischen in der Tanz-Kreation bewegt. Da gibt es die manchmal synchron, manchmal gegenläufig angelegten Arbeitsvorgänge der Gesellen ( unter denen Arman Zazyan als hilfreich Unterstützung leistender Juro besonders hervorsticht ), die großspurig expressiven Formationen des Meisters, dem Marijn Rademaker mit Glatze und Augenklappe ebenso Furcht erregende wie fesselnde Anziehungskraft verleiht und seine Lust am Bösen genüsslich ausspielt, genauso aber auch ganz zart empfundene (Liebes-)Pas de deux mit viel Körpernähe, wie z.B. der vom Altgesellen Tonda ( der technisch und als Charakter gereifte, herzerwärmend strahlende Alexander Jones ) und Worschula ( Alicia Amatriain, deren Vorzüge hier optimal eingesetzt sind und mit trauernder Maske ihr baldiges Ende schon vorausahnen lässt). Weil der Meister ihre Identität gelüftet hat, muss sie sterben. Ihre Todesszene ist ein langsames Erstarren, bei der ihr die Beine in Spitzenhaltung exzessiv einknicken ( eines von Volpis bravourös eingesetzten markanten Stilmitteln ), ehe sie in der schmalen Öffnung eines der vielen Getreidesäcke verschwindet.
Die Macht der Liebe wird denn auch in den beiden großen Szenen des Hauptpaares durch innig schöne Bewegungsmetaphern greifbar. Sie hält der Prüfung des Meisters stand, wenn Kantorka mit verbundenen Augen ihren Geliebten aus der Reihe der Gesellen erfühlen muss und ihn schließlich an seiner Angst um ihr Leben erkennt. Elisa Badenes verbindet als Kantorka spaziergang-leichtes Spitzentrippeln und hingebungsvolle Linie, während David Moore als eigentlicher Held des Stücks auf zurückhaltend schlichte Art seinem Kampf um die Freiheit Ausdruck verleiht. Für den bislang kaum aufgefallenen Halbsolisten ist Krabat eine ganz große Chance, in den Mittelpunkt zu treten, und er nutzt sie vor allem dort, wo er mit Naivität, kindlicher Unschuld und entgeistertem Agieren die Rolle beglaubigt. Die Auflehnung gegen den Meister, der ihm daraufhin seine Rolle als Herrscher über die Mühle anbietet, ist ihm weniger abzunehmen, als das darauf folgende Ringen um die Entscheidung, wo er in einem langen Solo in bislang nicht bei ihm gesehener Intensität aus sich herausgeht.
Ob ihm mit der auf offener Bühne anschließend erfolgten Beförderung zum Solisten in diesem zweifellos großen Moment seiner Einwicklung gedient ist, darf zumindest im Hinblick auf den Leistungsstandard der weiteren Vertreter dieser Kategorie mit einem Fragezeichen versehen werden.
Demis Volpi zum Hauschoreographen ernannt
Der neue Hauschoreograph Demis Volpi mit Intendant Reid Anderson. Foto: Stuttgarter Ballett
Die Ernennung Demis Volpis zum zweiten Hauschoreographen lag nach dem Weggang Christian Spucks nach Zürich indes schon während der Aufführung in der Luft. Strahlend nahm er die stehenden Ovationen für diesen riesigen Erfolg entgegen.
Speziell in der letzten Szene zeigte er noch einmal seinen Sinn für die Komprimierung aller theatertechnischen Parameter, indem er die Gesellen durch das Loch der eingestürzten Sackwände nach draußen krabbeln und Krabat mit seiner Kantorka mit dem Rücken zum Publikum Hand in Hand in Richtung Freiheit und Sonnenlicht gehen lässt. Was diese Freiheit bedeutet, bleibt dem Nachdenken des Einzelnen überlassen. Ein erhebend versöhnlicher Schluss im Sinne einer dramaturgischen Geschlossenheit und doch einer, der alles offen lässt. Tradition und Moderne in einem. Auf dieser breiten Schiene darf von ihm viel für das Handlungsballett der Zukunft erhofft werden.
Der Enthusiasmus des Schlussbeifalls bahnte sich bereits in der Zuschauerstimmung während der Vorstellung an. Und alle Beteiligten haben ihn verdient.
Udo Klebes