Stuttgarter Ballett „ENDSTATION SEHNSUCHT“ 30.5.2015 (Wiederaufnahme) – Unverändert packend
Spannende Reibungen zwischen Alicia Amatriain (Blanche) und Jason Reilly (Stanley). Copyright: Stuttgarter Ballett
Kaum zu glauben, dass die letzten Aufführungsserien von John Neumeiers Tanzdrama schon wieder zehn Jahre zurück liegen. Und doch ist dieser im Tänzerleben fast eine ganze Generation bedeutende Zeitraum an der fast komplett neuen Besetzung, auch im Corps de ballet, zu erkennen, die diese Neueinstudierung im Prinzip fast als Premiere einstufen lässt.
Auch wenn das Stück vor gut 30 Jahren für Marcia Haydées spezielle Persönlichkeit kreiert wurde, ist doch mit Bewunderung festzustellen, wie gut das Stück auch mit neuen Interpretationen funktioniert, wie zeitlos der zentrale Konflikt der Handlung und nicht zuletzt wie unverändert modern die Choreographie Neumeiers geblieben ist. Die Raffinesse der Überblendung verschiedener Zeit- und Spielebenen durch die Aufwicklung der Geschichte als Rückblende aus Sicht der Protagonistin eröffnet dramaturgische Möglichkeiten, die bei der Uraufführung eine Novität darstellten, aber auch heute noch als fortschrittlich betrachtet werden dürfen, um die mit Worten viel einfacher zu erklärende Handlung des zugrunde liegenden Dramas von Tennessee Williams tanzsprachlich umzusetzen.
So wie die deutsche Übersetzung des Titels heißt, beginnt Neumeiers Schöpfung in der Psychatrie, wo Blanche Du Bois in einem Gemisch aus Wahnvorstellungen und Erinnerungen ihre Vergangenheit rekapituliert, deren Zeuge wir werden. Ihr Leben scheiterte am Zerfall der Plantage ihrer Familie Belle Rève, die Zerstörung ihrer Ehe durch die Aufdeckung der Homosexualität ihres Mannes und dessen unaufgeklärte Erschießung, dem vergeblichen Versuch ihren Beruf als Lehrerin weiter auszuüben, weshalb sie ihr Liebesbedürfnis zunächst in Stundenhotels befriedigte und schließlich mit einem Koffer ihrer wichtigsten Kleider und Habseligkeiten als letzte Station bei ihrer Schwester Stella, die in New Orleans mit dem polnischen Einwanderer Stanley Kowalski eine primitive Ehe führt, Zuflucht findet. Die Reibung zwischen ihrem affektiert aufrecht gehaltenen Standesbewusstsein und die rohe Einfachheit des sexuell erregten Schwagers führt zur Degradierung Blanches durch eine Vergewaltigung und der daraus resultierende Verfall in den Bereich des Wahnsinns direkt ins Irrenhaus. Kurz gesagt: der Konflikt zwischen Tradition und Neuerung am Beispiel eines Einzelschicksals. In Neumeiers Bühnenkonzeption, seitlich den Raum begrenzenden hohen Fenster- und Türläden sowie Ventilatoren, die an die Südstaaten gemahnen sowie einem Bett als zentral bedeutungsvoll einbezogenem Requisit, bietet schnelle Verwandlungen und Kontraste zwischen dem Glanz eines Balles unter Lüstern auf Belle Rève, dessen Fassade nach und nach wegbricht, und der schlichten Nacktheit des Lebens in der Großstadt, zwischen geordnet noblem Festrahmen und einer wild in aller Breite über die Bühne bewegten Menge in der Großstadt. Die Musikauswahl erhöht noch die Gesamtwirkung: Prokofjews „Visions fugitives op.21“ mit Klavier und Kammerorchester weichen im zweiten Teil Alfred Schnittkes kompletter Erster Sinfonie, deren chaotischer Klangcharakter mit zahlreichen Stilzitaten der Musikgeschichte und eingelagerten groovenden Rhythmen zunächst einiges an Hörüberwindung kostet, aber mehr und mehr in den Strudel des Geschehens hineinzieht und bewusst macht, wie sehr dieses akustische Tohuwabohu Blanches Innerem entspricht und so mehr und mehr mitfühlen lässt, woran sie zerbricht.
Alicia Amatriain identifizierte sich mit Blanche als eine durch ihren seelischen Konflikt mehr und mehr gealterte Frau, deren Blick eine Mischung aus Hilfeschrei und gezwungenen Phasen eines aufhellenden Lächelns signalisiert. Noch mehr als diese psychologische Seite ist ihre tänzerische Umsetzung zwischen vornehmer Spitze und mühsam unter Kontrolle gehaltenem Versagen und Einknicken der Beine, die schmiegsame Leichtigkeit zu bewundern, mit der sie durch die Arme der wechselnden Partner gleitet und sich zuletzt wie ein gehetztes Tier aus den Fängen von Stanleys Vergewaltigung zu befreien sucht. Absolut faszinierend, wie schonungslos hier an den Beinen gezogen und gerissen wird, die ansonsten leichten Spitzen-Touren gehorchen müssen.
An Jason Reilly, der als einziger schon bei den letzten Aufführungen dabei war, ist deutlich zu erkennen, wie dieser unverändert jungmännlich, kraftvoll und höchst zuverlässig gebliebene Tänzer an menschlicher Reife gewonnen hat. Sein Stanley ist ein Prachtexemplar an Kraftpotenz und einfachem Gemüt, dem Blanche nur unterliegen kann, in Elisa Badenes hinreißend lebensfroh, quirlig und mit passend billiger Note getanzter Stella dagegen eine ideale Partnerin für einen Funken sprühenden Liebesakt gefunden hat.
Viel Kontur gibt Damiano Pettenella Stanleys Boxkumpan Mitch, indem er Blanche mit bisweilen drolliger Schüchternheit begegnet, dessen anfängliche Sympathie und Zuneigung sich durch Stanleys Aufklärung über ihr Wesen in schlagartige Abkehr wendet, indem er ihr mit einer Lampe ins Gesicht leuchtet – einer der vielen packenden Momente in Neumeiers reichhaltiger Ausdrucks-Chiffre.
Blanches Ehemann Allan Gray wird in der unsicher zwischen Beziehungsgefühlen für sie und seinem Liebhaber zerrissen wirkenden Gestaltung von David Moore, der auch einen Briefträger mimt und damit Blanche unwillkürlich an ihren Mann denken lässt und doppelbödig gesehen als Irrenarzt in Erscheinung tritt, zu einer aufgewerteten Figur der Geschichte. Diesen besagten Liebhaber zeichnet der jetzt häufiger solistisch in Erscheinung getretene Gruppentänzer Marti Fernandez Paixa mit jungenhaft kultiviertem Latin Lover-Naturell und tänzerischer Einfühlsamkeit.
Von den drei Männern aus Blanches Hotelzufluchten ragt vor allem Robert Robinson als auch sprachlich süffisant schmierig begehrender Soldat hervor. Das Corps de ballet vervollständigt als in über die Bühne ausgebreiteten kurzen Soli und Pas de deux das Gesamtbild einer Tragödie, deren Sogkraft als Gesamtkunstwerk auch jetzt wieder die Pulse höher schlagen lässt. Anhaltender Jubel!
Udo Klebes