Stuttgart: „ARIADNE AUF NAXOS“ 28.5. 2013 (Premiere 20.5.) – Zwiespältiges Experiment
Rekonstruierter Schauplatz der Uraufführung der Oper. Foto: A.T.Schäfer
Am 25. Oktober 2012 jährte sich die Uraufführung von Strauss/Hofmannsthals ungewöhnlichstem Opernprojekt im Kleinen Haus des damals gerade eröffneten Stuttgarter Hoftheaters von Max Littmann zum hundertsten Mal. Somit war es für die jetzige Direktion fast eine Verpflichtung, dieses Werk in der Jubiläumsspielzeit wieder (im wahrsten Sinne des Wortes) zur Diskussion zu stellen, zumal die letzten Aufführungen vor Ort rund 20 Jahre zurück liegen.
Es wäre auch naheliegend gewesen, bei dieser Gelegenheit trotz aller Umstände für den Repertoirebetrieb die Urfassung zu zeigen; nicht nur, weil deren letztjährige Einstudierung bei den Salzburger Festspielen sich als durchaus tauglich erwiesen hat, vielmehr weil sie einem Haus wie der Stuttgarter Oper, wo sehr lange an Produktionen gefeilt und auch im Repertoire gepflegt wird, und obendrein immer wieder Sparten vereinende Inszenierungen angestrebt werden, ohne Bedenken zuzutrauen wäre.
Stattdessen zogen es Operndirektor Jossi Wieler und sein langjähriger Co-Dramaturg Sergio Morabito vor, das Stück ganz neu zu beleuchten, indem das Vorspiel (in der gängigen Wiener Fassung von 1916) und die Oper in umgekehrter Reihenfolge zur Aufführung kommen, das Vorspiel quasi als Nachspiel oder gar Endspiel (dazu später) erscheint. Ihr einfachstes Argument, dies würde der Chronologie der Entstehung entsprechen, greift allerdings zu kurz, weil es vielfache Beispiele gibt, wo Teile eines Bühnenwerkes nicht in der logischen Handlungsabfolge geschaffen wurden. Das zweite Argument ist zumindest diskutabel: durch die Voranstellung der Oper würde diese mehr Eigenständigkeit und Gewicht erhalten, das Geschehen weniger als Theater auf dem Theater wahrgenommen werden. Nun, ob letzteres eine Abwertung oder Einschränkung ihrer Qualität bedeuten würde, sei dahin gestellt, aber das Vorspiel schildert eindeutig die letzten hektischen Vorbereitungen der Aufführung im Hause des reichsten Mannes von Wien. Natürlich steckt dahinter die grundsätzliche Abhängigkeit der Kunst vom Mäzenatentum. Doch macht es letztlich mehr Reiz, dies als zeitlose Problematik im Hinterkopf zu behalten als es explizit als aktuellen Diskurs ins Heute zu stellen, wie es die nach offener Verwandlung nackte Bühne, die die Akteure dann selbst für die Aufführung bestuhlen, mit einem (zum Glück tonlosen) Video-Live-Film von der rückwärtigen Verkehrsstraße und einem Rednerpult für den Sprecher (Haushofmeister) des Mäzens, suggeriert. Es entsteht der Eindruck, dass es dem Regieteam vorrangig darum ging, die Situation heutiger Sänger in einem zunehmend von mehr Privatisierung und Sponsoring finanzierten Opernbetrieb zu zeigen. Alle sitzen oder stehen über die Bühne verteilt, nur manchmal die Position wechselnd, und singen ihre kurzen Phrasen bzw. rezitierten Kommentare, die dieses Vorspiel so abwechslungsreich und dialogisch flott machen, teils bezugslos in den Raum, so dass sowohl die Zusammenhänge verloren gehen als auch die meisten von ihnen schwer einer Rollen-Identität zuzuordnen sind.
Ana Durlovski als Zerbinetta mit ihren Partnern Roland Bracht, Heinz Göhrig und André Morsch (v.l.). Copyright: A.T.Schaefer
Einen Gewinn zieht dieses nachgestellte Vorspiel für die Stellung des Komponisten (mit Lockenperücke und Brille) und seinen Lobpreis auf die Musik als heiligste der Künste, wofür er in den Orchestergraben steigt, sich bis zum Dirigenten durcharbeitet und seine abschließende Frustration anklagend über die Brüstung hinweg ins Publikum schleudert. Das sitzt und entlässt den Zuhörer/-schauer erfüllt und nachdenklich zugleich, auch weil Sophie Marilley im Gegensatz zu den bisherigen Rollen-Begegnungen ihren Mezzosopran hier glutvoll auflädt ohne ihn mit schädigendem Überdruck einzuschränken und auch sonst Text und Noten ideal auf einer Linie führt. Die Oper ist bis dahin schon wieder etwas in die Ferne gerückt, weil die pausenlose Überleitung zum Vor- bzw. Nachspiel die finale und jedes Mal aufs Neue berauschende Metamorphose und Verwandlung Ariadnes durch die Begegnung/Vereinigung mit Bacchus sofort hinweg wischt anstatt sie als Gipfelpunkt nachklingen zu lassen.
Die Oper selbst hat Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock im Gegensatz zum gegenwärtigen Vorspiel in der Zeit der Uraufführung angesiedelt, und zwar ganz konkret im großen Foyer des im Krieg zerstörten Kleinen Hauses, das sie inklusive der kleinen Lüster anhand von alten Aufnahmen und Farbmontagen aus dem Nachlass des Architekten für die Bühne rekonstruiert hat. Der rötliche Boden, die dunkel gehaltenen Motiv-Tapetenwände, die seitlichen Fenster, gegenüber die Zugänge zu den Logen, die Sitzgruppen mit den speziellen Sesseln, Kaminspiegel im Hintergrund und dazu passend die Ausstaffierung der Personen im Stil der Zeit machen staunen, dass Frau Viebrock auch Sinn für eine Ästhetik hat, die ohne Gebrochenheit und Verwahrlosung auskommt. Genau dieser direkte örtliche Bezug wäre aber mit der Erarbeitung der Urfassung logischer und konsequenter gewesen.
Auf der Habenseite dieser Inszenierung steht der zentrale Gedanke, Ariadne und Zerbinetta als zwei Seelen einer, wenn auch standesgemäß unterschiedlichen Frau begegnen und sich aufgrund ihrer ähnlichen Erfahrungen mit Männern näher kommen und verstehen zu lassen. Dies wird durch profilierte Rollenportraits, die mehr als nur die bloße Gegenüberstellung von Tragik und Heiterkeit aufzeigen, und wie sie von diesem Regieteam auch zu erwarten war, hinreichend gestützt.
Nun aber endlich zu den Leistungsträgern: statt Christiane Iven übernahm in dieser dritten Vorstellung Cornelia Ptassek vom Nationaltheater Mannheim die Titelrolle und fügte sich gewandt und sicher in das Konzept der trauernden Ariadne, die ganz in Schwarz gehüllt und immer wieder in einem Sessel hängend, dem Alkohol zugeneigt ist. So rank und schlank von Gestalt sie ist, so führt sie auch ihren sich in der Höhe üppig und weit entfaltenden Sopran, bisweilen etwas streng, aber doch mit dem erwünschten Strauss-Glanz. Von Ana Durlovski war das mühelose Spitzenregister ohnehin zu erwarten; dass sie ihre im weißen Rüschenkleid und mit langer blonder Lockenperücke spielerisch leicht als Kokotte gezeichnete Zerbinetta jedoch mit so viel wort-bezogener Raffinesse versah und gar verführerisch durch den beispiellosen Noten-Dschungel dieser Partie hindurch fand, zeigte noch einmal eine neue Seite von Stuttgarts derzeit bewundernswertester Sängerin. Zusammen mit dem stilvoll clownesk kostümierten Partner-Quartett ist die komödiantische Seite des Werkes bestens abgedeckt. Angeführt wird dieses von André Morsch als locker charmantem und mit sich immer mehr festigendem Bariton durchsetzendem Harlekin. Heinz Göhrig (Scaramuccio) mit klangvoll schönem und Torsten Hofmann (Brighella) mit charakterfestem Tenor sowie der bass gesättigte Roland Bracht als Truffaldin ergänzen es auf ausgleichendem Niveau.
Angesichts des Mangels an Tenören, die mit Strauss unangenehmen Tessituren ohne Probleme zurecht kommen, bildet der Amerikaner Erin Caves einen Glücksfall. Auch wenn das Timbre eher weiß und wenig farbmarkant ist, und sein Bacchus barfuss mit Pluder-Unterhose und übergeworfenem Samtumhang im selben violett wie die Vorhänge des Hoftheaters, zuletzt mit Lorbeerkranz, eine eher lächerliche Figur abgibt, so ist sein höhenstabiler, wortklarer und ganz ohne Stemmen auskommender Vortrag von göttlich überrumpelnder Intensität. Selbst die heikel im Höhenpiano zu intonierende „Zauberin“ gelingt ihm mit bruchloser Zartheit. Zur Opernhandlung gehören noch die drei schick aufgeplusterten Nymphen, hier wohl Theaterbesucherinnen, die den antik anmutenden Text aus Geschichtsbüchern rezitierend lebendig werden lassen. Yuko Kakutas spitz virtuose Najade, Maria Koryagovas klangvoll strömendes Echo und Lindsay Ammanns füllig dunkle Dryade verdichten sich zu machtvoll flutendem Tonschwall.
Im Vorspiel ist Karl Friedrich Dürr ein etwas herber Musiklehrer mit wirrem Haar und leicht polterndem, aber beherzt zupackendem Gesang, Christoph Waltle (kurzfristig vom Theater Freiburg eingesprungen) ein süffisante Pointen setzender, fein tenoraler Tanzmeister. Die drei Kleinstrollen bleiben außer dem durchsetzungsfähigen Bariton von Adam Cioffari als Lakai mit Ewandro Cruz-Stenzowski als Offizier und Daehyun Ahn als Perückenmacher inszenierungsbedingt eher unauffällig.
Die größten Einbußen durch die Verlegung ins Heute erlitt der Haushofmeister – dessen artifizielle Sprache gehört doch in eine vergangene Epoche und verliert durch den neudeutschen Stil, den André Jung zweifellos in klarer gewandter Deklamation beherrscht, einiges von ihrem Reiz.
Die delikatesse-reiche Partitur erfuhr in der Einstudierung von Michael Schönwandt eine kontrastreiche Wiedergabe, die weniger aufs Schwelgen als auf die klare Durchleuchtung ausgerichtet war. Kammermusikalische Gespinste wurden dabei genauso plastisch freigelegt, wie die aufrauschenden Momente, wo es immer wieder staunenswert ist, welch kompakten Klang das hier nur mit 35 Musikern bestückte Orchester entwickeln kann. Das Staatsorchester Stuttgart glänzte dabei mehr mit astreinen intimen Momenten als im symphonischeren Bereich, wo zumindest vom vorderen Parkett aus gehört, die Sänger phasenweise zu mehr Forte-Einsatz gezwungen wurden als es partiturgemäß erforderlich ist.
Lebhafter Applaus mit gerecht verteilten Einzel-Ovationen für ein Experiment, das zwar mehrheitlich nicht überzeugen kann, aber dennoch diskussionswert ist und dem Werk keine Gewalt antut, nur die Akzente verschiebt. Hauptsache es gilt der Kunst, der Heiligen Musik!
Udo Klebes