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STRASBOURG: Ballet de l’Opéra National du Rhin Strasbourg „PINOCCHIO“

16.02.2014 | Ballett/Tanz, KRITIKEN

Ballet de l’Opéra National du Rhin Strasbourg „PINOCCHIO“ 16.2.2014 (Premiere 31.1.)Spielerisch phantasievolle Symbiose

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André Oliveira Dos Santos (Pinocchio) im Schlund des Haies. Copyright: Jean Luc Tanghe

 Seit Herbst 2012 leitet Stuttgarts langjähriger Erster Solist Ivan Cavallari die Geschicke der elsässischen Compagnie mit Ballett- und Probezentrum in Mulhouse, wo auch rund 14 Tage vor dieser Nachmittagsvorstellung die Premiere seiner neuen Choreographie über die Bühne gegangen war. Sein im Programmheft geäußertes Anliegen, mit dieser tänzerischen Übertragung der berühmten Erzählung von Carlo Collodi sowohl Kinder als auch Erwachsene ansprechen zu wollen und sich zu wünschen, dass sich jeder Besucher ein Stück weit in der Seele des aus einem Stück Holz geschnitzten Jungen wiederfinden möge, ist dem auch durch seine mehrjährige Leitung des West Australian Ballett in Perth erfahrenen Tanzschöpfer als das gelungen, was von einer Theaterarbeit erhofft werden darf: ein Gesamtkunstwerk, bei dem alle Komponenten so lückenlos miteinander verwoben sind, dass über die emotionale Ebene hinaus auch der reine Genuss wertvoll lebendigen Theaters bedient wird.

Cavallari hat die für ihn wichtigsten Abschnitte des Buches für seine inklusive Pause knapp zweistündige Ballett-Version ausgewählt. Da ist neben Pinocchio natürlich zuerst sein Schöpfer, der Tischler Gepetto, dem Renjie Ma mit kraftvoll entschiedenem Bewegungs-Duktus, aber auch einfühlsamer innerer Beteiligung am Schicksal seines Sohnes passende Gestalt gibt. Dazu kommt die Blaue Fee als auf dem Trapez von oben einschwebende Lenkerin, die trotz Pinocchios ungehorsamen Ausbruchsversuchen vom rechten Weg und seiner wiederholten Lügen an ihn glaubt. Sarah Hochster gibt der im klassischen Glitzer-Tutu auftretenden „Zauberin“ würdevolle Haltung und mimisch gestischen Beistand.

Die diebische Verfolgungslust von Kater und Fuchs  bietet ohnehin gute Voraussetzungen für eine tänzerisch inspirierte Umsetzung. Lateef Williams und Christelle Molard gelingt das im tiergerechten Habit mit Gewandtheit zwischen animalischem Instinkt und einer Spur durchscheinender menschlicher Schläue bestens. Einen Sonderstatus nimmt die Grille ein, die Pinocchios widerfahrende Unglücke klagend kommentiert und mit ihren akustischen Äußerungen einem Sänger entsprechend gut anvertraut ist. Jean-Christophe Born verleiht ihr mit etwas steif geradem, aber klangvoll durchdringendem, teilweise auch ins Falsett wechselndem Tenor stimmige Verlautbarung.

Im Mittelpunkt steht der als Gast von Cavallaris vormals geleiteter australischer Compagnie gekommene André Oliveira Dos Santos, der mit passend geringer Körpergröße und ungeheuer flinker wie auch beherzter Gestaltung ganz in Pinocchio aufgeht und zudem noch bestechend sauber und musikalisch empfunden agiert. Mit seinem von der Fee erhaltenen roten Gewand und Hut leuchtet er aus dem Ensemble heraus, das von Maria Porro im übrigen mit hohem Wiedererkennungsgrad der Rollen ausgestattet wurde: die Pinocchio heilenden Kaninchen mit ihren langen Ohren und Kopflampen, der Zirkusdirektor mit seinen Artisten, die Schüler und nicht zuletzt der Hai, in dessen Bauch sich Vater und Sohn zuletzt wiederfinden und befreien können. Zuerst steckt der Raubfisch ebenso wie der daran baumelnde Pinocchio auf einem großen Angelhaken, dann ist das riesige Gebiss und die Öffnung auf einen transparenten Vorhang projiziert, aus dem die Geretteten letztendlich heraus klettern, in dem sie ihn durchstoßen. Auf selbe Weise werden die Waldszenen mit großen Baumstämmen suggeriert, Sterne blitzen aus dem dunklen Bühnenhintergrund, ein historisch anmutender Zirkuseingang, eine Schultafel und ein Bett, in dem Pinocchio im stummen Epilog erwacht und erwachsen geworden beglückwünscht wird, sind die weiteren, letztlich einfachen und für die Orientierung doch so wichtigen szenischen Zutaten (Bühne: Edoardo Sanchi), ergänzt durch Jon Buswells Realität und Traum klar trennende Lichtregie.

Dass alles so unverstellt, direkt verständlich und doch mit einer gewissen Phantasie abläuft und vermittelt wird, liegt letztlich ganz entscheidend an Cavallaris leichter Hand, mit der er alle Beteiligten in die Handlung einbindet, Tanz und schauspielerische Aktion fließend ineinander übergehen lässt und in einer Schülerszene auch die spontan reagierenden Kinder im Zuschauerraum einbindet. Dabei verleugnet er nicht die Basis des klassischen Balletts, stellt dessen herausragende Formen wie Pirouetten, Jétes und Arabesquen aber nur situationsgemäß begründet, nie als virtuosen Selbstzweck in den Vordergrund. Auch deshalb kommt der Ablauf des Geschehens so spielerisch leicht und unverkünstelt daher. Das rund 30köpfige Ballett-Ensemble präsentiert sich in seinen wechselnden Gruppen-Auftritten herzhaft mitziehend, im Großen und Ganzen ausgewogen, auch wenn ihr Potential in dieser Choreographie sicher nur teilweise ausgereizt wird.

Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Vermittlung leistet die bei Enrico Melozzi in Auftrag gegebene Musik. Der in vielen Stilen tätige Bühnen- und Filmkomponist erweist mit seiner ersten Ballettmusik drei großen seiner Landsmänner die Ehre: Monteverdi, Rossini und Nino Rota. Entsprechend farbenreich, wechselnd zwischen Renaissance-Strenge, romantischem Pfiff und Jazzanklänge aufweisender Filmmusik, findet die Musik mitsamt eines immer wieder auftauchenden Leitthemas zu einer Geschlossenheit, die der Bühne zusätzliche  Verbindlichkeit sichert. Sogar einen Rap hat Melozzi swinghaft aufgegriffen und bietet Pinocchios Schulkameraden Lumignon die Gelegenheit eine Kostprobe mit Breakdance-Elementen zum Besten zu geben. Bedauerlicherweise wird der Tänzer auf dem Besetzungszettel nicht namentlich genannt.

Das Orchestre Symphonique de Mulhouse gibt der manchmal etwas bläser-dominanten Partitur mit futuristischen Anklängen, aber doch überwiegend gefälliger Geste, unter der Leitung von Myron Romanul hinreichend Kontur und Gewicht.

Das Publikum dankte es allen heftig, jubelnd dem erwachsen gewordenen Titelhelden.

 Udo Klebes

  

 

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