Staatsoper München – La fanciulla del West –
Oper von Giacomo Puccini – Premiere am 16. 3.2019
Libretto nach dem Schauspiel The Girl of the Golden West von David Belasco.
Zur Inszenierung:
Zerbrechen oder Überhöhen? – Werktreu, werkfremd, werkimmanent? In München horten Flüchtlinge „am sozialen Abgrund“ Gold! Goldrausch im Arbeitslager Kohlebergwerk!
DRAMATURGISCHE SCHRIFTEN VON TIM THEO TINN Nr. 6
Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl
Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man lässt!
Wilhelm Busch, „Die fromme Helene“
Vorgriff auf Dramaturgische Schriften Nr. 6, TTT:
Die Zukunft des Musiktheaters liegt im Bezug zu universalen Welten: was heute passiert oder gestern war ist bekannt, futuristisch – archaische Möglichkeiten geben Autonomie in Inhalt und Logik und damit Alleinstellungsmerkmale des Theaters, d. h. wir bewegen uns in Parallelwelten, Variantenräumen einer Wirklichkeit, die durch die Erschließung der Quantenenergien ohnehin immer neuere Konturen erhält.
1789 Goethe: im Theater geht es nicht um literarische Vorlagen, sondern die Inszenierung ist Gegenstand.
Ich bin gegen die Erfindung werkfremder Inhalte oder werktreuer „Pseudo-Originalität“. Werkimmanente Sichtung heißt: dramatische Strukturen in Ort, Handlung, Textentsprechung gem. Vorlage und schlüssiger Wahrhaftigkeit bleiben ohne Purismus erhalten – Historismus verhindert oft Transformation. Nach der Entwicklung folgender Ausführungen bleibt nur der werkimmanente Ansatz.
Meine grundsätzlichen Eindrücke dieser werkfremden Inszenierung bitte ich den Ausführungen vom 16.3.d.J. zu entnehmen „Szenischer Dilettantismus, Dirigat degeneriert – und kein Buh“ https://onlinemerker.com/muenchen-bayerische-staatsoper-la-fanciulla-del-west-premiere/.
Ich untersuche völlig subjektiv am Beispiel der Münchner Inszenierung die Chancen theatraler Zukunft werktreuer, werkimmanenter oder werkfremder Inszenierungen. Dabei erläutere ich im Rahmen dramaturgischer Sichtung die Schlüssigkeit der „Fanciulla“ aus heutiger Sicht auf ein 109 Jahre altes Werk, dass vor 169 Jahren spielt. Erstaunlicherweise bleiben unschlüssige Brüche aus der Werktreue in der Werkfremdheit dieser Inszenierung oft gleich oder werden erhöht. Beim Ausblick in Welten, die sich weder archaischer noch fiktiver Zukunft zuordnen lassen, werden Umstände schlüssig und bedeutsam. Diese werkimmanente Form steht über dem Realismus, ist surreal.
Der Inszenator ist Mitte 50, mit Preisen überhäufter Filmregisseur, der „in seinen Filmen auf Improvisation und Handkamera setzt“. Seit 2006 hat er nun die 4. Oper inszeniert. Im Musiktheater kann man keine improvisierten Schnappschüsse aufnehmen und am Schneidetisch nach einer Lösung suchen. Die Festlegung von Ausdruck und Personenregie im Raum gehören, ebenso wenig wie eine dramatische historische Vorlage in theatrale großformatige heutige Bühnensprache zu bringen, nicht zu seiner bisherigen Profession. Im Ergebnis der Fanciulla–Inszenierung bestätigt sich dieses naheliegende Unvermögen. Die Dramaturgie wird vom derzeit üblichen Mainstream abgekupfert. Bei der folgenden Betrachtung des Werkes ergeben sich völlig andere Schwerpunkte bzw. Inhalte als vom Inszenator beschworenes soziales Elend und Flüchtlingsleid, Bühnenbild und Kostüme scheinen sich an der Wiener Inszenierung zu orientieren.
Grundsätzlich kann am Theater alles gemacht werden, man sollte allerdings beachten, ob hier Weltgeltung oder Werkstattcharakter besteht – und es bleibt beim Otto Schenk – Zitat: „Es muss nur gut sein!“
Bei Überlegungen zum Subtext (https://de.wikipedia.org/wiki/Subtext) habe ich in San Francisco eine historische Ausgabe gefunden. Dortiger Übertitel zur Intention Puccinis:
„Ein Drama der Liebe und der moralischen Erlösung, dunkel und weit mit primitiven Charakteren und unberührter Natur“
Damit steht Puccini über der Münchner Interpretation, steht also über Realismus, ist surreal, alles wird schlüssig, da wir uns nun in Methapern und Allegorien bewegen können. Ich folge den dramatischen Strukturen Puccinis werkimmanent in sublimem Surrealismus.
Werkimmanenz: keine Deutungen außerhalb des Werkes liegender Faktoren oder Umstände. Surrealismus: unwirklich, traumhaft, Unbewusstes, Absurdes, Phantastisches.
Max Planck, großer Physiker im 20. Jhdt. (schuf Grundlagen der Quantentheorien): „…. nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche –, sondern der unsichtbare (immaterielle), unsterbliche Geist ist das Wahre, Wahrhaftige“ – das gilt es zu finden.
Erstaunlicher Weise ist es in 3 von 4 Kunstformen (bildende Kunst, darstellende Kunst, Musik, Literatur) seit Jahrhunderten selbstverständlich die nackte kalte Wirklichkeit/ Konsensrealität zu verlassen – nur darstellende Theaterkunst bleibt heute rückständig – ist rückständig geworden.
Tatsächlich traute man sich z. B. schon im 15 Jhdt. mit Monteverdi und Co. in feinstofflichen Welten zu inszenieren. So konnte man mit schöpferischem Gestalten ausdrücken, was Menschen denken und fühlen – heute, immer seltener, bevorzugt man die platte Wirklichkeit unser Konsensgesellschaft.
In Mailand während des Studiums gehörte Puccini zu den Scapigliati, den „Zerzausten“– Intellektuellen aus Literatur und Musik in Verehrung internationaler Autoren: Baudelaire, Heinrich Heine, Edgar Allan Poe, E. T. A. Hoffmann u. A. Poeten, die sich in Fantastik, Symbolik – in Varianten – /Parallelwelten unserer Tageswirklichkeit/ Konsensgesellschaft bewegen – das war Initiierung der Puccini- Klangwelten – sollte er bei seinen Libretti nicht auf die Deutungstiefe geachtet haben?
Soziale Anklage überließ Puccini den sog. Veristen (gesteigerter Realismus), Pietro Mascagni, Ruggiero Leoncavallo etc. Puccinis Musik verlässt reale Handlungen, bildet Subtext in psychologischer Vertiefung.
Erstaunlicherweise behaupten die meisten Autoren zur Münchner Premiere die Seltenheit von Fanciulla – Inszenierungen. Tatsächliche wurde in den letzten Jahren z. B. in Frankfurt, Leipzig, Zürich, Hamburg, New York (mit vielfacher Kinoübertragung in Europa), Stockholm, Stuttgart, Paris, Mannheim, Essen inszeniert.
Und diese Inszenierungen bewegen sich alle erdschwer im Niemandsland zwischen Werktreue oder -fremdheit, im Verismus unserer Wirklichkeit, jenseits von Puccini-Intentionen – das kann auch so sein – aber schafft man so die Berührung mit dem Kosmos des Klang-Giganten?
……denn man kann die Welt und ihre sozialen Gegebenheiten nicht einfach hinter sich lassen.“ Zitat des Inszenators. Und wenn doch?
Ein unwirklicher zauberhafter Ort, fantastisch, surreal in goldenem Licht. Jenseits von Archaik oder Science Fiction, in dem Menschen feiern, tanzen, auch spirituell sein können. Ohne die „Star Wars“ Filme imitieren zu wollen, ist dort die Balance zwischen archaischen und futuristischen Welten ideal. Optik sollte artifiziell und niemals alltäglich sein.
Atmosphärische Beispiele für Fanciulla Bilder.
Kritisch-paranoischer Surrealismus – Dalí
Auflösung des Beharrens der Erinnerung – Dali
Werner Schaad, Metamorphose im Raum, 1930.
René Magritte, Die große Familie, 1963
Meditative Rose 1958 S. Dali
Zur Beachtung: vielfältige Bedeutung Rose, auch als Fraktal der Vagina
Magritte – Les Amants (Lovers). Beispiel 1. Kuss Minnie/Johnson
Der erste Kuss Minnies spielt eine große Rolle, kann in Surrealem jenseits des reinen Körperkontaktes tiefere Bedeutung haben: Kuss als Zeichen von Versöhnung, Erlösung, Erweckung, Abhängigkeit, kann für Verehrung und Verbindung stehen. Auflösung der Identität nimmt eindimensionale sexuelle Ausrichtung. Die Tücher sind schlüssig, da Minnie als „Unberührte“ so leichter die Scham vor dem ersten Kuss verliert.
Inhalt
Original (werktreu)
Kalifornien im Goldrausch in Minnies Saloon mit Ballsaal („Zur Polka“- übersetzt: „Zur Polin“) in einer Goldmine. Freie männliche Abenteurer (Völkergemisch, multiethnische Gesellschaft) saufen, spielen, Männer tanzen im Ballsaal miteinander, prügeln, geben bei Minnie ihr Gold in Verwahrung. Ein Minne-/Bänkelsänger singt. Einem Falschspieler wird eine Spielkarte an die Stirn geklebt, soll ihn für alle Zeiten als Betrüger kennzeichnen. Ein Anderer will aus Heimweh nach Cornwall, England. Man sammelt für ihn, da er wohl ohne Gold ist und er geht frei und selbstbestimmt. Sucht nach Gold bestimmt den Alltag: Nick schon zu Beginn: „Unser Problem ist die gelbe Malaria – das Gold vergiftet alle!“, es sind also Goldgräber, die aus Goldsucht im selbst auferlegtem Schicksal in der Goldmine sind, keine unterdrückten Opfer totalitärer Macht (Inszenierung München), keine erbärmlichen Flüchtlinge sondern selbstbestimmte Einwanderer.
Die starke Minnie trägt Männerkleidung, dominiert alle Männer, ist umworben, ungeküsst, lebt im selbst gewählten Zölibat, hat trotz Ballsaal noch nie getanzt hat, kokettiert mit ihrer Weiblichkeit zur Umsatzsteigerung (Nick zu Minnie: „Jedes Lächeln von dir bringt ne Bestellung“), ist bigott und gibt Bibelstunden, obwohl die Kerle da schon viel Whiskey getrunken haben und sehr einsilbig sind. Wie die Legende des Wilden Westens Calamity Jane, benimmt sie sich wie ein Mann, hat Vater-Komplex – nur so einem Mann wird sie sich hingeben. („…Mutter mit Vater heimlich füßelte. So einen Mann…, den würde ich lieben.“) Gesteht später aber auch Unbedarftheit („Ich hab nur für 30 Dollar Bildung, bin nur ein armes Mädchen, etc.“) Macht bei Johnson „auf kleines Mädchen“.
Ebenso dominant ist Sheriff Jack Rance, ein Macho, der seine Frau für Minnie verlassen, für Liebesdienste 1000 Dollar zahlen will. Er ist so ein Gerhard Schröder (Altbundeskanzler BRD), ein Donald Trump, jemand, der alle Ideale verrät, im Selbstmitleid zerfließt (Text: „…. Habe mein Haus verlassen, man hat mir keine Träne nachgeweint, niemand hat mich je geliebt, ich habe auch nie jemanden geliebt. Nichts auf der Welt macht mir Freude, ich habe ein verbittertes und vergiftetes Spielerherz, begegne dem Leben mit Hohn und Spott“), lebt ohne jede Einsicht zu möglicher Besserung (s. Subtext: moralische Erlösung).
Minnie beschwört den Vaterkomplex, Rance: „Vielleicht gibt es den Prachtkerl ja bereits!“ und prompt erscheint Dick Johnson: Liebe auf den 1. Blick mit Minnie, jetzt ohne Dominanz. Sie hatten sich schon mal gesehen, „tiefschürfende“ Erinnerungen: Sie „Sie haben mir einen Jasminzweig gegeben.“ Er fragte damals „Gehen wir Brombeeren pflücken?“ Sie „Ich wollte nicht.“ Er „Ich hab Sie nie vergessen“ etc. Tatsächlich ist Johnson der Bandit Ramerrez.
Johnson ist Bandit durch Geburt, er hat nie Anderes gekannt. (1. Akt: „Ich weiß selbst nicht recht wer ich bin.“ 2. Akt: „Ich weiß, dass ich ein Schuft bin – ich bin als Schurke geboren, … ich wusste nichts “) er kommt, um das Gold zu rauben. Durch die Liebe zu Minnie kommt er davon ab, bereut, ist zur Besserung, damit zur Erlösung fähig (2. Akt: Ich träumte … Oh, Gott gib…., mit Minnie weit, weit weg zu fliehen…, um ein neues Leben zu beginnen, voll Arbeit und Liebe….“)
Johnson wird erkannt und angeschossen. Zu seinem Schutz betrügt Minnie Jack Rance im Kartenspiel um das Leben des Geliebten und Sex mit ihr. Trotzdem steht Johnson später am Galgen, Minnie erscheint, will zunächst mit Gewalt, dann mit polemischem Appell an die Wohltaten, die sie den Männern im Spirituell-Humanem gegeben hat, die Hinrichtung verhindern. Und tatsächlich ergehen sich alle in sakralen Gesängen, geben den Banditen frei, der mit Minnie Kalifornien verlassen will. Minnie will also ihren Saloon aufgeben.
Interpretation der Bayrischen Staatsoper (werkfremd): Neues Drama
Sozialer Abgrund mit Flüchtlingselend, schmutziges Kohlebergwerk in Osteuropa als Arbeitslager mit Stacheldraht. Flüchtlinge am sozialen Abgrund in armseliger uniformer grau grüner schmutziger heutiger Arbeitskleidung (keine Individualität – mit dem Chor muss man halt umgehen können) – sonst bleibt alles beim Original – Unschlüssigkeiten werden z. B. mit Gold im Kohlebergwerk, Flüchtlingen mit Gold, Einsätzen von z. B. 100 Dollar beim Kartenspiel, Whiskey- und Zigarrenrunden für Alle und ständiger nächtlicher Dunkelheit in allen Bildern erweitert. Ein Flüchtling und Zwangsarbeiter geht aus eigenem Willen nach Cornwall usw. Persönliche Charakteristika der Hauptdarsteller werden nicht betont, lediglich besungen.
Ideen einer werkimmanenten Sichtung in sublimem Surrealismus
Ein unwirklicher zauberhafter Ort, fantastisch surreal in goldenem Licht aus der Goldmine s.o. wird Polka genannt. Unterstellt, dass Puccini hier eine Bedeutung unterbringen wollte: der Begriff weißt transzendent in der Traumanalyse auf die spirituelle Verbindung zum Göttlichen hin, welche jeder Mensch in sich trägt. Ob das nun stimmt oder nicht ist egal. Im Surrealen wird Polka dazu erhoben. Dieser Ort erweckt auch Assoziationen an Bordelle, Chinesenviertel mit taoistischem Tempel, Opiumhöhlen, Bullenkloster (nur Unterbringung von Männern). „Ob das nun stimmt oder nicht“ erinnert auch an Konfessionen aller Glaubensrichtungen oder Parteiprogramme: deren Selbstinszenierungen gehen weit über Stimmigkeit im Alltag hinaus. Das kann Niederschlag in Kostümen finden, in denen man überhöhte optische Zitate z. B. diverser Priester unterbringt, die es in unserer Welt im übertragenen Sinn auch als (oft verlogene) Goldgräber gibt (aktuell s. Papst und Kinderschändung). Hier kann auch übertrieben salbungs- und huldvoll gesabbert werden. Ja, das könnte man sogar als szenisches Zitat nehmen. Da segnet jemand in übertriebener weißer Soutane. Die aktuelle Behauptung, dass 80 % zölibatärer Priester schwul sind, lässt sich auch im „Bullenkloster“ unterbringen. (Nicht zur Bloßstellung sondern zur Kenntlichmachung der Umstände in unserem Alltag, die manchen diese Flucht gehen lässt!)
Ein Völkergemisch aller Kontinente, eine multiethnische Gesellschaft in unbekannter Zeit ferner Zukunft oder Vergangenheit. Hispanoamerikaner, Asiaten, Schwarzafrikaner (um 1850 noch versklavt), Natives (Ureinwohner), Mestizen, Spanier, Franzosen, Deutsche, Engländer, Polen usw.: der Melting Pot (Schmelztiegel der amerikanischen Nation). Die Kostüme sind unterschiedliche potenzierte Wirklichkeit mit Nationalitätszitaten in Anlehnung/Synthese an Star Wars, Wild West und Frieda Kahlo. Mglw. sitzt man auch gem. u.st. Gemälde von F. Kahlo im Baum. Körpersprache ist reduziert gezirkelt – unwirklich. So wird werkimmanent das Thema Migration (Schmelztiegel) unterschwellig berücksichtigt, aus bestehendem Libretto, nicht durch Veränderungen, ohne Presseerklärung (Voltaire: „Alles was eine Erklärung benötigt, ist einer Erklärung nicht wert!“)
Frieda Kahlo, Family Tree
Das Kartenspiel erfolgt ritualisiert mit großen Tafeln, die für Publikum deutlich sichtbare langsamere Aktionen bieten, kein diffuses Gewurschtel. (Es gibt durchaus einen surealen Bewegungskatalog.) Es wird gestritten. Ein fröhlicher und besinnlicher Feierabend, selbstverständlich tanzen Männer mit Männern, Küssen sich, raufen, saufen, noch gibt es Rassismus und Unfrieden: „du Spanier, gelber Chinamann“ Minnie erhält Blümchen von einem Goldgräber (frisch gepflückt im Winter, das kann nur Metapher sein), von anderen ein blaues und rotes Bändchen – auch diese Aktionen werden übertrieben groß und bedeutungsvoll sakral im Gefühl der sublimen Musik inszeniert.
Die Bestrafung des Spielbetrügers Sid ist real Blödsinn („… Karte anheften. Dies ist eine Warnung, er wird nie wieder eine Karte anfassen – Wenn er es wagt, wird er aufgehängt“) Der Blödsinn kann surreal groß werden: die Karte wird zum Brandeisen, dass sich tief im Gesicht einbrennt – das ganze Gesicht wird zur Fratze mit diesem Brandmal. Sid wird wahrhaftig mit dieser surrealistischen Verfremdung gebrandmarkt. So wird Schlüssigkeit und Brutalität erreicht. Wichtig, da ja keine Schmuse-Inszenierung intendiert ist. Vielleicht nutzt man auch mal olfaktorische Möglichkeiten (dezent – verbranntes Fleisch) nach vernehmbarem Brutzeln des Brandmals. Das kann nur Theater, wurde aber wohl noch nie gemacht.
Eine ebensolche Härte kann bei dem Walzer, den Minnie zum ersten Mal in ihrem Leben tanzt, gezeigt werden. Puccini wusste, dass Walzer zunächst wegen Unzüchtigkeit verpönt war, als obszön und skandalös galt. Wenn Johnson und Minnie sich tanzend entfernen, muss etwas Obszönes in surrealer Übertreibung – als Perspektivwechsel fürs Publikum mit dem Aufblitzen einer veränderten Szene – aufschrecken – das kann z. B. eín überschminktes Drag – Queen – Paar (aus dem Bullenkloster, in der Aufmachung an Minnie und Johnson erinnernd) bei tanzenden Sado-Maso-Praktiken (s. Frieda Kahlo oder s. u. Max Ernst, Entkleidung der Braut 1939) sein.
Die Sucht nach Gold, die gelbe Malaria ist ein zentrales Thema. Außerdem wird viel Whiskey getrunken. Werkimmanent surreal könnte man (muss bzgl. theatraler Wirkung überprüft werden) diese Süchte zusammenfassen: es wird geschnüffelt aus berauschenden Whiskey-Ballons, die aus einem Kompressor mit der Aufschrift – gelbe Whiskey-Malaria, von Nick, dem Barmann gefüllt werden. Bei jeder Whiskey Bestellung wird textgemäß dieser als surrealer Ballon serviert – übergroße Luftbälle verlieren beim Schnüffeln der Protagonisten ihr Volumen und werden zu schlaffen Hüllen. Unterschwellig wird der Ballast assoziiert, den man sich mit Sucht und Alkohol, (hier „Schnüffelstoffe wie Benzin, Aceton, Toluol, Trichlorethylen und Fluorkohlenwasserstoffe) auferlegt.
Soweit ein Teil dramatischer Exposition. Die Geschichte führt letztlich zu „Freude, schöner Götterfunken“. Beethoven, wie fast alle Musiktheater – Komponisten steht hier auch über der Realität: getriebene Menschen transformieren zum Ideal einer humanen Gesellschaft. Bedingungslose Liebe greift um sich, alle Menschen werden Brüder in der großen Schluss-Apotheose ( Verherrlichung/ Verklärung). Bedingungslose Liebe ist das Ideal der Nächstenliebe in allen Weltreligionen.
Vorher im letzten Bild: die Hinrichtung Johnsons am Galgen wird vorbereitet. Die Szene muss Brutalität und Ekel bewirken. Johnson steht mit dem Strick am Hals, es gibt zwei Ebenen. Auf der höheren überlagernden Fläche bringt man 2 tote übergroße Schweine auf Spieße. Diese toten Schweine wurden nicht ausgenommen, sie kommen auf die Spieße und werden aufgeschnitten, nun quellen langsam völlig unkontrolliert, völlig übertrieben Mengen an Gedärmen (graue Darmschlangen etc. )aus den toten Tieren, verzweifelt wird versucht, diese Gedärme zu stoppen, bzw. wieder in die Schweine zu stopfen. Dabei werden die Menschen mit Blut und anderen Flüßigkeiten aus den toten Tieren besudelt.
Das Schlussbild wird meditativ sakral (z. B. Dali, meditative Rose s.o.) – Minnie: „Schaut her, ich werfe die Waffe weg! …. was wahre Menschenliebe wirklich bedeutet Brüder. Es gibt auf der Welt keinen Sünder, für den es nicht auch eine Erlösung gibt!“ (s. Subtext Puccini: Liebe und moralische Erlösung aus dunklen primitiven Weiten)
Der Galgen zur Hínrichtung ist surreal und wird im Moment der Läuterung zu einer Synthese aus Kreuz und Leuchtturm mit diamantenem Licht, entweder durch Veränderung der Position oder aus der Versenkung. Alle Kostüme (außer Minnie und Johnson) werden zu Kutten, großes Verzeihen, alle Waffen werden abgelegt, alle Arme auf die Schultern. Kutten sind verlängerte Hemden, die nun aus den Hosen runtergelassen werden. Es gibt einige Kutten als Farbtupfer, die meisten sind beige. Einige Kostüme sind auch im Finale auffälliger, wie die bunten Vögel im Leben.
Überhöhung Minnie/Johnson am Schluss: um vom einfachen Individuum zu großem aufgeklärt Menschlichem zu kommen, wachsen Beide überweltlich zu riesigen Giganten, die alles überlagern in Wolkenberge. Die technischen Möglichkeiten von Hologrammen, scheinen das heute möglich zu machen. (https://www.youtube.com/watch?v=YJQZkIhpnKI)
Weitere Themen, die zu surrealer Umsetzung einladen: Gold, Brombeeren, Jasminzweig.
Spirituelle Verkettung vom ersten zum zweiten Akt: der 51. Psalm David, den die unberührte Minnie in der Bibelstunde vorträgt: „Jeder trägt im Herz ein kleines Pflänzchen. Wasch mich, dass ich weiß werde wie Schnee, schaff in mir ein reines Herz, verleih mir erlesene Gedanken! Möge jeder im Herzen die große Wahrheit der Liebe bewahren!“ (Dieser Text sollte mlgw. nur gesprochen werden und schallt laut wie über Megafone durchs Theater.)
Im 2. Akt küsst Minnie, küsst zum ersten Mal im Leben, lässt sich berühren – und es schneit, ein gewaltiger Schneesturm. Johnson: „Wie es schneit“ Minnie: „Der ganze Berg ist weiß, es gibt kein Zeichen für einen Weg!“ Es schneit, alles wird weiß (51. Psalm David): das Zeichen zu reinem Herz und erlesenen Gedanken. Das geht über triebhaftem Sexus weit hinaus. Eine Metapher zur Liebe.
Aufeinandertreffen und wiedererkennen Minnie/Johnson: wird surreal ein Déjà-vu
(Erinnerungstäuschung, man glaubt, ein gegenwärtiges Ereignis schon erlebt zu haben).
Kartenspiel Minnie-Rance im 2. Akt wird zum Gottesurteil.Usw.
Es werden keine Fremdthemen instrumentalisiert und zur gefälligen Unterhaltungsschmonzette herabgewürdigt.
Jack Rance, Sheriff ist Vertreter staatlicher Gewalt, dämonisch, vital animalisch, steht für gesellschaftliche Verkrustung, Kostüm: Mischung aus Darth Vader Star Wars, Wild West Sheriff und Satyr (Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock) mit einem Huf statt Fuß, den er durch weite Hosen verheimlicht, der aber immer mal sichtbar wird. Ebenso hat er ein zweites Gesicht, dass hin und wieder ganz kurz aufblitzt (s. u. Totenkopf, Woodroffe 1978, Line of Duty)
Dick Johnson – Kostüm : Jedi Ritter Starwars, Wild West,Torrero, Siegmund (Wagner), Er ist in einem Unrechtssystem, wie auch heute totalitäre System solange normal erscheinen, wie man Teil dieses Systems ist – erst mit dem Blick von außen kann sich diese Welt bessern. Dieser begrenzte Kosmos eine Unrechtsystems zum Universum bedingungsloser Liebe ist sein Weg. Vielleicht Leiden Christi andeuten – ggf. wird er auch schon ans Kreuz genagelt. Er hat Schuld auf sich geladen, wird erlöst.
Minnie – Kostüm: Synthese aus Nonne, Prinzessin Leia Star Wars, Johanna von Orlean, Lebt spirituell im Urvertrauen eines glücklichen Kindes. ein Mensch – der Ideale verkörpert in verlotterter Gesellschaft – Vertrauen, gibt anderen Hoffnung durch höheres Ich. Die reine Unschuld jenseits menschlicher Schwächen oder doch nicht? Das Klischee vom unberührten Menschen idealtypisch auf dem Weg zum Besseren – Humanismus. Die Vaterverehrung ist mglw. nicht auf den biologischen Vater bezogen, sondern auf eine übergeordnete transzendente Macht in allen Universen.
Woodroffe 1978, Line of Duty
Sheriff Rance wird immer mal diese Fratze in kurzem Blitzlicht haben
Max Ernst, Entkleidung der Braut 1939, Walzer – Drag Queen
Jack Wallace, der Bänkelsänger : Troubadix aus Asterix
Hirschhochzeit, 1959, Genercilic, naive Malerei
Minnie: Wirtin der Schenke „Zur Polka“ (Sopran)
Dick Johnson: Anführer einer Räuberbande namens Ramerrez (Tenor)
Jack Rance: Sheriff (Bass)
Nick: Kellner der Schenke „Zur Polka“
Ashby: Agent der Transportgesellschaft Wells Fargo (Bass)
Billy Jackrabbit: ein Indianer (Bass)
Wowkle: Billys Squaw (Mezzosopran)
Jack Wallace: Bänkelsänger (Bariton)
José Castro: Mestize aus Ramerrez‘ Bande (Bass)
Weitere:
Sonora – ein Goldgräber (Bariton)
Trin – ein Goldgräber (Tenor)
Sid – ein Goldgräber (Bariton)
Harry – ein Goldgräber (Tenor)
Joe – ein Goldgräber (Tenor) Bello – ein Goldgräber (Bariton)
Happy – ein Goldgräber (Bariton) Larkens – ein Goldgräber (Bass)
weitere Männer aus dem Goldgräberlager (Chor) und ein Postillion (Tenor)
Tim Theo Tinn 26. März 2019
Profil 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).