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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: LA FANCIULLA DEL WEST. Premiere

Szenischer Dilettantismus, musikalisch (Dirigat) degeneriert – und kein Buh

16.03.2019 | Oper

Staatsoper München – La fanciulla del West –
Oper von Giacomo Puccini – Premiere am 16. 3.2019
Libretto nach dem Schauspiel The Girl of the Golden West von David Belasco.

Tim Theo Tinn, erste Notizen nach der Vorstellung:
Szenischer Dilettantismus, musikalisch (Dirigat) degeneriert – und kein Buh

Bin ich zu anspruchsvoll, sind andere zu anspruchslos? Eigentlich sollten meine ersten Eindrücke zurückhaltenden werden. Aber dann…….

Erster optischer Eindruck: das ist das aktuelle Wiener Bühnenbild in der Probebühnen-Variante. Im ersten Bild stimmen alle Proportionen, Gestaltungen, Farben, zweites und drittes Bild sind auch Varianten im trostlosen uninspirierten Bühnenbild. Das ist kein kalifornisches Goldminenlager im Winter um 1850 im Wilden Westen gem. Vorgabe sondern ein schmutziges Kohlebergwerk in Osteuropa in Arbeitslagerqualität mit Stacheldraht. Kostüme sind mit Wien austauschbar.


Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl – links (nicht abgebildet) wie in Wien, die kleine Theke


Wiener Staatsoper GmbH @ Michael Pöhn

Ich habe zweimal in Universen reichenden schwebenden Gesangszauber erlebt. Der Live-Eindruck ist doch über Allem erhaben. Brandon Jovanovich als Dick Johnson hatte ich bisher nur medial erlebt und Vorurteile entwickelt. Dafür muss ich mich schämen, denn da ist ein tenorales Wunderweben entstanden. Zusammen mit Anja Kampe, der göttlichen Anja Kampe, wurde gesanglich atemberaubender Puccini – Zauber geboten. Für beide gilt: in ihrem Gesang sind alle Resonanz-Räume so fein und sensibel mächtig geöffnet, dass alle Lagen viril und faszinierend schwingen. Die Übergänge werden vom feinen Piano im sensibelsten Crescendo zum berückenden Forte/Fortissimo aufgeschwungen, alles ist lyrisch durchwebt in Partien, die eine Klasse für sich sind. Pure Dramatik fordert massive Stimmen, die sich in feinem Lyrismus, also lyrischem Gesang finden. Das war singulär – ich verneige mich. John Lundgren als Jack Rance ist großartig mit balsamischer Mittellage – der kleine Tick zur Superlative wird leider durch den bemühten Einsatz auf dem Weg zum hohen Register verhindert.

In der musikalischen/orchestralen Gestaltung war ich verdutzt – so fragwürdig hätte ich es nicht erwartet. Oft zu laut, langsam und überschmalzt. Ein Klischee Puccini in anbiedernder Schönfärberei, Das ist kein Puccini sondern ein Missverständnis. Das Orchester ist wie immer allerbestens – aber der Leiter bestimmt halt die Route. Da wird der musikdramatische Fluss gedehnt, trivialisiert gedehnt. Auf melodramatischem Kitsch gestützte “Schmalzkiste“ enttäuscht.

Durch eine schlimme (gleich folgende) Erkenntnis gebe ich nun den „Jogi Löw“ in aller Härte. Hab versucht einige Stunden zu schlafen, bin stattdessen der Glotze erlegen und bei Synchronizitäten (s. C. G. Jung) gelandet: „ Rache der Schöpfung“(Menschen vernichten Bienen), „Wunderschönes Kalifornien“ (der Inszenator behauptet ein fürchterliches Kalifornien), „kognitive Dissonanz“ (da findet man sein eigenes Tun zum Kotzen). Da ist es wieder – es gibt mehr als unsere 5 Sinne, es gibt eine Empfindungswelt, die für uns alle geöffnet ist (s. TTT Dramaturgische Schriften hier im Feuilleton, die Nr. 6 folgt in wenigen Tagen).

Der Inszenator und Regisseur hat szenisch einen Offenbarungseid des Unvermögens geleistet. Sein szenisches Gerumpel ist zunächst mal (s.o. Wien) langweilig. Er hat weder aus der Dramatik eine adäquate Dramaturgie entwickeln können noch atmosphärisch das Werk erkannt. Personenregie im Raumgefüge oder Ausdruck der Charaktere (s. Tischprobe in meiner folgenden Rezension) erarbeitet. Da versucht halt jeder Protagonist seine Routine mehr oder weniger zu nutzen. Es wird trotz Raumtiefe zum Rampendrall.

Das war nur enttäuschend, erschüttert hat mich anderes. Auch die klaren spirituell humanistischen Bezüge, die eine Klammer vom ersten zum zweiten Akt bilden, werden nicht erkannt: Die unberührte Minnie geht tief in den 51. Psalm Davids: „Jeder trägt im Herz ein kleines Pflänzchen. Wasch mich, dass ich weiß werde wie Schnee, schaff in mir ein reines Herz, verleih mir erlesene Gedanken! Möge jeder im Herzen die große Wahrheit der Liebe bewahren!“

Im 2. Akt küsst Minnie, küsst zum ersten Mal im Leben, lässt sich berühren – und es schneit, ein gewaltiger Schneesturm. Johnson: „Wie es schneit“ Minnie: „Der ganze Berg ist weiß, es gibt kein Zeichen für einen Weg!“

Es schneit, alles wird weiß (51. Psalm David) und – und alles bleibt in dieser Inszenierung schwarz, wird ignoriert!

Puccinis Libretto wird zur Notenkrücke degradiert. Das geschieht oft. Das ergänzt die musikalische Trivialisierung – aber furchtbar ist hier wieder mal ein Mainstream – Derivat, wie es auch gerade beim sich selbst (und von Intendanten und weiter Presse) zum mystischen Märtyrer erhebenden Inszenator des Hamburger Nabucco geschieht. Flüchtlingselend wird instrumentalisiert, um Unvermögen zu kaschieren.

Unser „Fanciulla“ – Inszenator erfindet eine Welt am „sozialen Abgrund“ mit Flüchtlingselend, („Da denke ich an Migrationsbewegungen ….“), dann misstraut er sogar seiner Sichtweise („Insofern misstraue ich dem …). Warum macht er dann nicht das Schlüssige, gem. Libretto?

Warum soll eine Horde Primitiver, die gem. Libretto Gold besitzen, die viel Gold bei Minnie horten, am sozialen Abgrund stehen, im Migrationselend leben?

Ich bin überzeugt, dass dieses Werk als Utopie gemeint ist, jeder Wortfetzen mit der Musik korrespondiert und gewaltige Tiefe verlangt, hat und beachtet werden muss. Dies werde ich in meiner folgenden Rezension belegen.

Werbung mit Flüchtlingselend, insbesondere wenn es wie hier konstruiert ist um über Defizite zu täuschen, ist fürchterlich beschämend (kognitive Dissonanz)!

Erinnern wir uns an die dramatischen Fotos des ertrunkenen Flüchtlingskindes, die um die Welt gingen. Dieses Elend sollte man nicht benützen, um erschütterndes Unvermögen zu kaschieren! Ich schäme mich und habe geweint.

In meiner Rezension, die diesmal wohl etwas später kommt, werde ich dieses Thema nicht vertiefen, wohl aber die offen erkennbare Utopie, die Puccini in Varianten, in Parallelen unserer Welt beschwört. Also nicht in schönen oder schlechten Zeiten dieser Welt – sondern, das was manchmal Traum und Ideale verraten. Dazu gehe ich auch auf Farb- und Gestaltungsdramaturgie surrealer Theatralik ein. Den Hintergrund biete ich in TTT Dramaturgische Schriften im Feuilleton des Online – Merkers.

 

 

Tim Theo Tinn, am 16. März 2019


Profil 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international.  Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).

 

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