ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Sidi Larbi Cherkaoui mit „Ihsane“
„Eine seltsame Nacht“. Diese Worte lehrt Mohamed Toukabri, selbst Tänzer und Choreograf, die vor ihm sitzende Gruppe von Menschen unterschiedlichster Herkünfte auf arabisch lesen, sprechen und schreiben. Mit Publikums-Beteiligung. So beginnt der belgisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui den zweiten Teil seines Diptychons über seine Wurzeln.
In dem im Juni 2022 in Brüssel uraufgeführten und im Oktober des selben Jahres in St. Pölten gezeigten Stück „Vlaemsch (chez moi)“ untersucht er seine belgischen, also seine mütterlichen und die durch seinen Lebensmittelpunkt induzierten Aspekte seines Selbst, und das mit ausschließlich flämischen Kollaborateuren (onlinemerker berichtete). Vollkommen gegensätzlich, so wie die Persönlichkeiten seiner Eltern, „Ihsane“, uraufgeführt im November 2024 in Genf und hier als Österreich-Premiere in einer Koproduktion mit dem Festspielhaus St. Pölten zu erleben.
Sidi Larbi Cherkaoui Ihsane (c) Filip Van Roe
Cherkaoui entführt uns gemeinsam mit namhaften marokkanischen Musikern und Künstlern für Bühnenbild, Licht, Kostüme und Videodesign nach Marokko, in die auch nach deren Verlassen heiß geliebte Heimat seines Vaters, der verstarb, als sein Sohn 19 Jahre alt war. An der Beerdigung konnte der Sohn nicht teilnehmen. 30 Jahre später, nach vergeblicher Suche der Ruhestätte seines Vaters auf einem überfüllten Friedhof in Tanger, forscht Cherkaoui nach seinem Vater und dessen Welt in sich selbst.
Aber nicht nur das. Er spürt den in seinem Inneren wohnenden Klängen, Texten und Bildern einer Kultur nach, die einerseits von Ihsane geprägt ist (das Wort bedeutet auf Arabisch Wohlwollen, Güte und Freundlichkeit, im Islam steht es für die Verbindung mit allem Seienden). Andererseits weist er mit dem Titel des Stückes auch auf ein Verbrechen hin, das Belgien im Jahr 2012 erschütterte. Ein 32-jähriger homosexueller Mann marokkanischer Herkunft namens Ihsane wurde nach dem Verlassen eines Nachtklubs aus rassistischen und homophoben Motiven zu Tode geprügelt. Cherkaoui solidarisiert sich mit ihm, nicht zuletzt aus seinem Selbstverständnis als queerer arabischer Künstler heraus.
Sidi Larbi Cherkaoui Ihsane (c) Filip Van Roe
Jenes Wohlwollen, das der Choreograf seit seiner Kindheit zu kultivieren sucht, konfrontiert er in diesem Stück mit Realitäten, die bald das Gegenteil dessen zu repräsentieren scheinen. Fotos von alten Dokumenten und seiner Familie mit Vater eröffnen eine Reise in die Vergangenheit und in das ferne Land. Die häufigen Erdbeben, die Marokko heimsuchen und bislang schon viele Zehntausend Opfer gefordert haben, Zerstörung und Leid über die Menschen gebracht haben, die Wüste mit ihrem lebensfeindlichen, Tod bringenden Lebensräumen. Und dann der raue Atlantik.
Das Schächten eines Schafes, eine auf den Video-Wänden gezeigte religiös tief verwurzelte Opfer-Zeremonie, wird im Tanz gleichzeitig zur rituellen Tötung eines „Andersartigen“ als Stellvertreter für all die, die mit ihrem von tradierten Normen abweichenden So-Sein eben jene Normen hinterfragen und damit die Grundfesten religiös-patriarchaler Strukturen erschüttern.
Am Ende der Video-Sequenz schauen große Augen aus den Videowänden. Die machen uns mit verantwortlich. So hebt er das Private ins Gesellschaftliche, das Kleine ins schier Unendliche. Diese Bildsprache unterstützt das ungemein sinnliche Bühnenbild von Amine Amharech auf kongeniale Weise. Offene Tore an den Seiten verheißen, willkommen zu sein. Wunderschöne Bilder arabisch-islamischer Architektur treffen auf Fotos und Video-Sequenzen über historische, menschlich-religiöse und geografisch-geologische Realitäten. Das Lichtdesign von Fabiana Piccioli gießt die Bühne in Nacht- und Morgen-Stimmungen.
Sidi Larbi Cherkaoui Ihsane (c) Filip Van Roe
Die Live-Musik der im Bühnen-Hintergrund installierten vier Instrumentalisten und zwei SängerInnen, komponiert und arrangiert von Jasser Haj Youssef, der auch das barocke Saiteninstrument Viola d’amour spielt, begleitet von Oud, Piano/Rhodes und Schlagzeug, bindet Orient und Okzident, Tradition und Moderne. Und die Kostüme von Amine Bendriouich geben Berbern und Arabern neben europäisierten und genderneutralen Zeitgenossen Leben.
Cherkaoui verschmilzt vieles auf vielen Ebenen. Der Tanz des Ballet du Grand Théâtre de Genève sowie seiner Compagnie Eastman vereint verschiedene arabische traditionelle Tänze, Urban und Zeitgenössisches, die Musik marokkanische Lieder, neu arrangiert, und elektronische Sounds, das Bühnenbild arabische Mythen und Märchen und moderne digitale Kunst, das Licht Nacht, Traum, Wunsch und Wahres, die Kostüme traditionelle marokkanische Kleidung, Nomadentum, heutiges legeres Straßenoutfit und anonymisierende, geschlechtliche Identitäten verwischende hautenge Leotards.
Sidi Larbi Cherkaoui Ihsane (c) GTG Gregory Batardon
Eine gewichtige Rolle spielt das Werk des libanesisch-französischen Autors Amin Malouf. Seine Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Identitäten prägen das Denken und Fühlen des Choreografen. Neben Gedanken Maloufs wird ein Gedicht des wohl bedeutsamsten Mystikers und Philosophen der arabischen Welt und Vater des Sufismus, Ibn Al-Arabi, zitiert. Die Feier der „universellen Erscheinungsformen des Göttlichen“ in dem Poem „Der Übersetzer der Sehnsüchte“ korrespondiert mit Cherkaoui’s Überzeugung von einer universellen Verbundenheit auf der Basis von Empathie und Toleranz.
Damit gibt das Künstlerkollektiv dem Stück eine spirituelle Ebene, die das islamische Ihsane spüren lässt. Die kraftvolle Poesie dieser fremdartigen Bühnen-Welt beeindruckt tief. Eine emotionale Wirkung jedoch ist dem Stück nur in Ansätzen vergönnt. Die Bilder aber bleiben einem lange noch im Kopf. Wie Cherkaoui’s Fragen: Was ist Identität? Und können mehrere davon in uns wohnen? Eigentlich, so das Credo (auch) dieses Stückes, lösen sie sich auf unter dem Einfluss einer Gastfreundschaft, die sich öffnet für andere künstlerische, ästhetische und menschliche Welten.
„Ihsane“ ist Trauerarbeit und Mahnmal, ist Erinnerung mit dem Risiko einer Verklärung, ist Realität und ferner Sehnsuchtsort und tief gefühlte innere Wirklichkeit in einem. Über allem schwebt eine Melancholie, die nicht nur von der Trauer, mehr noch von einer tief empfundenen Einsamkeit in unserer Kultur und Zeit und der Sehnsucht nach Ihsane genährt zu werden scheint.
Sidi Larbi Cherkaoui Ihsane (c) GTG Gregory Batardon
Das Begräbnis-Zeremoniell am Ende, als ein lang schon schwebender Kubus sich herabsenkt und den leblosen Körper eines Mannes aufnimmt und gen Himmel sich erhebt, wird zum nachgeholten, tröstenden, heilenden Ritual der Beisetzung seines Vaters. Es ist wie das Eingehen des Vaters und des getöteten Ihsane in das zentrale Heiligtum des Islam, die Kabaa, das Haus Gottes. Es wird aber auch zur ehrenden und mahnenden Zeremonie, die den dunklen Seiten des Menschseins das islamische „Ihsane“ entgegenstellt.
Sidi Larbi Cherkaoui und das Ballet du Grand Théâtre de Genève sowie seine Compagnie Eastman mit „Ihsane“ am 24.01.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann