ST.PÖLTEN/ Festspielhaus: Saison und neue Intendantin starten mit „Vlaemsch (chez moi)“ von Sidi Larbi Cherkaoui. 10.10.2022
Was macht unsere Identität aus? Was die eines Volkes, einer Nation? Welche Rolle spielen dabei Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung? Und: Wie entsteht Identität? Ihre Amtszeit als neue Intendantin des Festspielhauses St. Pölten und die Saison 22/23 eröffnet Bettina Masuch mit dem Stück „Vlaemsch (chez moi)“ des belgisch-marokkanischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Ein Tanz-Theater-Konzert ersten Ranges.
Die Bühne ist ein Haus mit Dachboden, aus dessen Dunkel diverse, meist in Grautönen gehaltene Requisiten, Bruchstücke von verschütteten Erinnerungen aus verstaubten Gerümpel-Halden und Kisten – wie aus den Tiefen des Unbewussten – ans Licht und in die Wahrnehmung geholt werden. Das Grau als der Bereich zwischen Schwarz und Weiß erzählt vom Analogen, Fließenden einer verschiedentlich wahrgenommenen, beschriebenen und erinnerten Vergangenheit.
Die Musik spielt eine zentrale Rolle in diesem Stück. Der Lautenspieler Floris de Rycker und sein Ensemble Ratas del viejo Mundo spielen und singen live Musikstücke aus den letzten 5 Jahrhunderten. Ein Genuss für sich, wie altes (Renaissance-) Liedgut, von Laute, Sopranen und Tenor intoniert, zuweilen mit sorgsam eingespielten elektronischen Sounds garniert, ins Jetzt geholt wird. Afrikanische Trommeln, chinesische(r) Klangschalen und Gesang mischen sich ein. Eine akustische Melange aus drei verschiedenen Kulturen als konzertanter Spiegel des Bühnengeschehens. Und Polyphonie als Seinsweise.
Die Hauptrolle jedoch spielen zu Co-Performern gewordene, unterschiedlich große und meist graue Bilder-Rahmen sowie von den PerformerInnen geführte Pinsel. Ein einfaches und doch so beredtes Bild für das so genannte Framing, bei dem, Komplexität reduzierend und den Intentionen des Informierenden wie auch denen des Informierten dienend, bestimmte Aspekte und Narrative selektiert und hervorgehoben werden, um andere in den Hintergrund zu drängen. Die so entstehenden Verfärbungen können und sollen zumeist auch moralische Rechtfertigung, intentiöse Deutung und daraus abgeleitete Aktivitäten unterstützen.
Mit diesen Rahmen, hinter ihnen und durch sie hindurch agieren die PerformerInnen, hängen sie Jesus auf seine ausgebreiteten Arme, schauen aus ihnen in einer zum dicht gedrängten Familienbild arrangierten Porträt-Collage. Die Fülle der in diesem Stück angerissenen Themen und deren Brisanz sind immens. Die koloniale Vergangenheit Belgiens, die Kongo-Gräuel und Sklaverei gehören wie die Hexenverbrennungen, die seit Langem anhaltende Entrechtung der Frauen, der Katholizismus und dessen rahmende Macht zum Flämischen wie die Alten Maler-Meister, die Musik der Renaissance, die Lyrik in heute selbst für Flamen unverständlichem Flämisch und die schon seit Jahrhunderten gelebte kulturelle Vielfalt.
Die Kostüme des Modedesigners Jan-Jan Van Essche entfalten eine besondere Wirkung. In binärem Schwarz und Weiß nur am Anfang (weil Flandern so und so einfach nicht ist), dann mehrfach gewechselt repräsentieren die DarstellerInnen Menschen – Soldaten, Metzger, Arbeiter, Pfadfinder, Radfahrer, Fahnen schwenkende Nationalisten, Frackträger, feine Dame und Braut – aus diversen Epochen und Regionen der Welt simultan auf der Bühne, in zeitlicher Diskontinuität, aber mit historischen Interdependenzen. Ein Erinnerungsbrei wie letztlich im Bewusstsein, mehr noch im Unterbewussten von Menschen, Völkern und Nationen.
In einem lebendigen, mit viel Dynamik variierten Bühnenbild (Hans Op de Beeck) entstehen atmosphärische Bilder von poetisch-metaphorischer Kraft. Das Letzte Abendmahl („Einer von euch wird mich verraten!“), gestellt mit bunt gekleidetem PerformerInnen-Volk, huscht vorbei und bleibt doch hängen. Kinderwagen und was wird uns in die Wiege gelegt, Jesus auf geputztem Sockel, der Polizist, der letztlich selbst nach seiner Pfeife tanzt. Die anfangs wie eine Tote aus einem Karton entpackte Frau, per Hexenverbrennung und vom Patriarchat geächtet als wertgeminderter, gefährlicher Nicht-Teil der Gesellschaft, zeigt sich schließlich doch lebendig. Sehr viele Rahmen werden auf ihrem gebeugten Rücken aufgetürmt. Und einen Rahmen sprengt sie schließlich.
Die Arbeit lebt von Poesie, Lyrik und Prosa, vielen Stimmungen (in Anklängen werden auch Themen von Werken flämischer Meister zu performativem Leben erweckt) und Gefühlen. Von Schwermut und Getragenheit über Selbstbeschau und trotzigen Selbstbetrug zu kämpferischem Verteidigen und Beharren („Ich habe nichts Schlimmes getan!“) oder Resignation. Immer wieder aber schaut Cherkaoui auch mit Humor und Augenzwinkern auf sich und seine Landsleute. Die Choreografie setzt die tänzerische Meisterschaft der Kompanie „Eastman“ dem Sujet dienend ein, unaufdringlich, hochkarätig. Und sie begeistert.
Was aber bleibt, ist die Kraft dieser Gesellschaft. Seit dem 15. Jahrhundert ist Flandern ein kultureller Schmelztiegel. Heute leben Menschen aus der ganzen Welt dort und bereichern mit ihren Prägungen die Gesellschaft und deren Kunst. Eindrucksvoll zeigt Cherkaoui das in einer nur kurzen Sequenz, in der er jeden der DarstellerInnen auf der Bühne einen poesievollen Satz in seiner/ihrer Muttersprache sprechen lässt. Kein babylonisches Sprachengewirr, sondern Verständigung auf der Ebene gemeinsamer Realitäten, Träume und Sehnsüchte. Polyphonie als Utopie.
Die Arbeit ist wie eine Meditation, in deren Verlauf unzählige Aspekte aus intrapsychischem wie historischem Nebel an die Oberfläche gespült werden. Framing als unbewusst wirkender und bewusst eingesetzter Mechanismus zur Identitätsbildung und Polyphonie als metaphorische Umschreibung der resultierenden, individuellen wie gesellschaftlichen, Existenzweise. „Vlaemsch (chez moi)“ ist ein höchst dichtes, äußerst komplexes, sensibel beobachtetes, in poetische, mehrdimensionale Bilder gepacktes, auch sehr persönlich-autobiografisches, humanistisch-feministisches und zu Recht mit Standing Ovations bedachtes Werk.
©FilipVanRoe_Vlaemsch by Sidi Larbi Cherkaoui @ Eastman Company
Die zum Ende hin eingestreuten arabischen Gesangsfetzen weisen auf den zweiten Teil dieses Diptychons, in dem sich Sidi Larbi Cherkaoui, wie er vor der Vorstellung im Einführungs-Gespräch mit Bettina Masuch erläuterte, seinen marokkanischen Wurzeln stellen will.
Rando Hannemann