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ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: RICHARD SIEGAL / BALLET OF DIFFERENCE MIT „NEW OCEAN“

WIEN/St. Pölten: Richard Siegal/Ballet of Difference mit „New Ocean“ im Festspielhaus St. Pölten

Richard Siegal ließ sich für sein jüngstes Ballett „New Ocean“, im September in Köln uraufgeführt, von zweierlei Aspekten inspirieren: Vom tiefen emotionalen Eindruck, den das Stück „Ocean“ von Merce Cunningham und John Cage in ihm hinterlassen hatte, und von der Stückentwicklungs-Methodik, mit der die beiden Ausnahmekünstler neue Ausdrucksmöglichkeiten für dieses 1994 uraufgeführte Stück schufen.

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Richard Siegal/Ballet of Difference: „New Ocean“ (Margarida de Abreu Neto, Mason Manning, Jemima Rose Dean), c. Thomas Schermer

Siegal verwendet Satelliten-Daten, die die Entwicklung des Eispanzers verschiedener Regionen der Arktis dokumentieren, um sie per eigens entwickeltem Algorithmus den Ablauf seiner Variationen von „New Ocean“ steuern zu lassen. Die Zufallsprozesse, die diese St. Pöltener Version strukturieren, basieren auf Daten der Karasee, einem südlichen Randmeer des Arktischen Ozeans. Aus den 94 Phrasen, die als Material erarbeitet wurden, wählen die TänzerInnen, was sie transformiert auf die Bühne bringen. Der choreografische Ansatz ist ein biomechanischer. Wie funktioniert ein Körper? Kann ein solches Konzept mehr hervorbringen als eine aufführungsspezifische Reihung von abstrahierten Bewegungs-Sequenzen? Die in zwei Akte gegliederte Choreografie präsentiert im ersten Teil tatsächlich viel davon. Scheinbar.

Mit dem Blues „You don’t miss your water“ (till your well runs dry) von Taj Mahal wird das Publikum bei noch brennendem Saallicht eingestimmt. Denn es geht um viel mehr als um gegenstandslose Freude an Bewegung. Den Boden der ebenfalls von Richard Siegal gestalteten Bühne bedeckt ein großer Kreis (Cunninghams Konzept für sein „Ocean“ andeutend), Seiten- und Rückwände glatte Flächen, anfangs noch weiß. In wechselnden Konstellationen tanzen die insgesamt acht TänzerInnen, vier Frauen, drei Männer und ein androgynes, spitzentanzendes Wesen von eigenwilliger Strahlkraft (Long Zou) Soli, während eine liegt und ein Anderer eine Körper-Skulptur baut. Initiiert von kurzen akustischen Entladungen wechseln sie Aktion und Passivität, Ab- und Auftritt. Das monotone, rauschende Pfeifen des Windes bleibt (Sound: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto with Ensemble Modern, UTP). Bewegungsmuster wiederholen sich, differierende Persönlichkeiten werden erkennbar.


Richard Siegal/Ballet of Difference: „New Ocean“ (Mason Manning, Long Zou), c: Thomas Schermer

Auffällig zum Beispiel der blonde Mason Manning mit zahlreichen einbeinigen, bewegten Stand-Figuren, kraftvoll und hochflexibel getanzt. Mit ständig gehaltenem höchsten Tonus gehen die klassisch geschulten TänzerInnen an die Grenzen des physisch Machbaren. Kantig, fast schroff spürt man das Leben im Eis, die temporäre Stille, das Krachen der sich türmenden Schollen und die bizarre Schönheit dieser unwirtlichen Landschaft. Die Nebel vom Himmel werden häufiger, und Schatten nur noch ihrer selbst sind sie am Ende von Teil Eins. Düstere Vorahnungen.

Nach der Pause Beschleunigung. Die Gruppen Tanzender werden größer, die Bewegungen weicher. Wie das Eis. Unruhige Dynamik zum nun kontinuierlichen, flächigen Sound, der bald ins Tröpfeln, Regnen sich wandelt, im dichter werdenden Nebel, jetzt auch bodennah injiziert. Auf den Boden projizierte aufgebrochene weiße Flächen. Die Szene wird bedrohlich. Am Ende füllt sich die menschenleere Bühne dicht mit Rauch, der von der fallenden Rückwand krachend in den Saal gedrückt wird. Eine kleine Lampe bleibt. Ihr Licht nimmt ab, verharrt glimmend und verlischt schließlich ganz.

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Richard Siegal/Ballet of Difference: „New Ocean“ (Jemima Rose Dean, Margarida de Abreu Neto, Claudia Ortiz Arraiza, Mason Manning, Andrea Mocciardini), c. Thomas Schermer

„New Ocean“ entfaltet trotz des so rationalen Konzepte emotionale Wirkung. Die TänzerInnen präsentieren mit ungeheurer Präzision, kraftvoller Geste, dennoch fragil und mit seltener Meisterschaft ein von Cunningham und Forsythe sichtbar beeinflusstes, ihnen aber entwachsenes, wegweisendes Bewegungsmaterial von faszinierender Ästhetik und mit ausgeprägtem individuellem Charisma. Die schon im ersten Teil aufgebaute Spannung verstärkt sich im zweiten Akt noch, um sich in einer nicht misszuverstehenden finalen Entladung zu lösen. Ein tänzerisch-musikalisch-visueller Hochgenuss mit einem klaren ökologisch-politischen Statement. Und, so Richard Siegal im Einführungsgespräch, das Verschwinden des Eises und damit der Daten über das Eis wird auch zum Verschwinden dieser Choreografie führen. Welch traurig-poetischer Appell an die Menschheit.

Rando Hannemann

„New Ocean“ von Richard Siegal/Ballet of Difference, am 06. Dez. 2019 im Festspielhaus St. Pölten.

 

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