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ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Michael Keegan-Dolan . Teaċ Daṁsa mit „MÁM“

ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Michael Keegan-Dolan . Teaċ Daṁsa mit „MÁM“

Der Bergpass, so die deutsche Übersetzung des gälischen Wortes „mám“, wird zum treffenden Symbol für diese hier als Österreich-Premiere, weltweit jedoch in den fünf Jahren seit ihrer Uraufführung schon zum 65. Mal gezeigten Arbeit des irischen Choreografen Michael Keegan-Dolan. Das, was durch Bergmassive voneinander getrennt zu existieren scheint, führt er zusammen zu einer begeisternden, mit Standing Ovations bedachten Show aus Tanz und Live-Musik.

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Michael Keegan-Dolan: „MÁM“ (c) Ros Kavanagh

Der irische Musiker Cormac Begley tritt auf mit einer bald abgelegten Widder-Maske und führt damit gleich zu Anfang ein in irisches Selbstverständnis. Die mit dem Schafbock verbundene Symbolik, er steht für Mut und Stärke, Fruchtbarkeit und Tapferkeit, Selbstbewusstsein und die Liebe zum Leben, aber auch für leidenschaftliche Wut und Ungeduld, wird zum Leitbild für eine sich dann entwickelnde Show voller Dynamik, Emotionen und komplexer Bilder.

Begley spielt die Konzertina, ein dem Akkordeon ähnliches, aber ohne eingebaute Akkorde nur Einzeltöne erzeugendes Handzugs-Instrument, mit so viel Gefühl, dass allein seine Musik den Besuch der Vorstellung gelohnt hätte. Der Melancholie der irischen Seele, geboren aus jahrhundertelanger Fremdherrschaft und Unterdrückung, gibt er viel Raum, lässt dann aber die trotzige Lebensfreude der traditionellen Musik der Insel mit solcher Energie erstrahlen, dass deren Rhythmen und Melodien einfach nur mitreißen.

Aber er bleibt nicht allein. Im Verlaufe des Abends gesellen sich die insgesamt sechs MusikerInnen des Berliner Jazz-Ensembles stargaze nach und nach zu ihm. Hinten auf dem Bühnen-breiten Podest wird es lebendig. Sie fallen mit Jazz-Akkorden ein in seine Traditionals. Doch er bleibt noch hartnäckig. Die musikalische Kennenlernphase, jeder stellt sich mit seinen Charakteristika vor, führt schließlich in eine harmonisch-rhythmisch-melodische Fusion von irischer Volksmusik und Jazz, aus dessen ungeheurer Vielfalt stargaze mit leichter Hand zu schöpfen scheinen.

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Michael Keegan-Dolan: „MÁM“ (c) Ros Kavanagh 2

Der Konzertina-Spieler und das Rock-Jazz-Ensemble finden sich am Ende zu Musik aus einem Guss zusammen. Tradition und Moderne vereinigen sich zu einer harmonischen, von allen sieben Musikern gemeinsam komponierten und arrangierten, äußerst wohlklingenden Synthese, die beispielhaft steht für die vielen in diesem Stück parallel laufenden dialektischen Prozesse. Auf der direkten und auf der Meta-Ebene führt der Choreograf scheinbar Gegensätzliches ein, um am Ende die Vereinigungen der polaren Paare auf einer höheren Ebene zu feiern.

Zwischen diesen Polen aber steht ein Kind, ein blondes Mädchen in seinem weißen Kleid. Ob physisch tatsächlich im Spannungsfeld zwischen rivalisierenden Horden platziert oder abseits als Beobachterin oder Ausgeschlossene, das Mädchen ist als Repräsentant eines mehr oder weniger erfolgreich unterdrückten Gewissens und einer wegen ihrer Irrelevanz für die jetzt Erwachsenen nicht existierenden Zukunft stets anwesend.

Am Anfang sitzt es auf einem Tisch in der Mitte, wird beiseite getragen wie zu seinem Schutz. Dann ist Platz für das Ensemble. Auch die TänzerInnen kommen von überall her. Nur zwei Menschen auf der Bühne, der Konzertina-Spieler und eine Tänzerin, haben irische Wurzeln. Die Annäherung aller an die irische Geschichte, Kultur, Natur und Mystik ist geglückt. Aber dieses Stück benutzt Irland bestenfalls als Sinnbild für Größeres, als Beispiel für in Menschen und der Welt überall zu beobachtende Phänomene.

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Michael Keegan-Dolan: „MÁM“ (c) Ros Kavanagh

Ob man, zum Beispiel, den Hass zweier rivalisierender, sich gegenüber sitzender Horden von aggressiven, gewaltbereiten Menschen (und das Mädchen zwischen ihnen), die schließlich aufeinander losgehen, als Darstellung des katholisch-protestantischen Ur-Konfliktes Irlands liest oder als Bild für einen jeden anderen Zwist auf dieser Welt, ist eher Resultat von individueller Projektion als falsch interpretiert.

Aber es geht auch anders herum. In einer rührenden Szene steuert ein Tänzer nacheinander jede(n) auf der Bühne Performende(n), ob tanzend oder musizierend, an, um sie/ihn auf den Mund zu küssen. Mit den zeitgleich sich findenden Paaren, auch hier mischt Keegan-Dolan alle, Frau-Frau, Frau-Mann, Mann-Mann, entsteht eine Harmonie dort oben, die Glücksseligkeit ins Auditorium strahlt. Wunderschön. Und damit sind auch hier zwei Pole beschrieben. Hass und Liebe, vereint in einem Menschen.

Selbiges im Tanz der herausragenden Kompanie. Zwar wird eine eventuelle Erwartung traditioneller irischer Volkstänze mit ihren typischen gestreckten Körpern, eng anliegenden gestreckten Armen und flatternden Beinen a la Michael Flatley enttäuscht, die Vielfalt der gezeigten Stile jedoch und die Art und Weise ihrer Verschmelzung begeistern. Folklore trifft auf Jazz-Tanz, klassische Elemente auf Zeitgenössisches, Rituelles auf Inneres Offenbarendes. Ebenso finden Solisten immer wieder zurück in einen wie ein Organismus sich bewegenden Ensemble-Körper.

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Michael Keegan-Dolan: „MÁM“ (c) Matt Grace

Keegan-Dolan überschreitet alle Grenzen, führt Trennendes geradezu ad absurdum: Geschlechter- und kulturelle Grenzen, Tradition und Moderne, Lokales und Globales, Individuelles und Gesellschaftliches, Privates und Öffentliches, verschiedene emotionale Status, inneres Erleben und physischer Ausdruck, Musik und Tanz, musikalische und Tanz-Stile, Kunst-Genres. Als alles mit allem scheint vereint und verbunden, bläst er zum großen Finale. Und das im Wortsinne. Das Mädchen steht mit flatterndem Kleid allein vor riesigen Ventilatoren, die Theaternebel in den Saal schmettern.

Nicht nur, dass er hiermit auch Bühnengeschehen und Publikum vereint, er verschmilzt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er macht uns zu Komplizen und packt uns bei unserer Verantwortung für die Zukunft eines noch ohnmächtigen Wesens. Selten adressiert Kunst das Gewissen. Hier, im kraftvollen Bilde, spürt man das Totgeglaubte, das so mannigfaltig Anästhesierte deutlich. Und so wird die Botschaft von „MÁM“, Trennendes zu überwinden, auch zu einem Aufruf, die zeitliche Grenze unseres individuellen Lebens als eine imaginäre und das Danach als eine von uns und vor uns zu schützende Welt zu begreifen.

 

Michael Keegan-Dolan . Teaċ Daṁsa mit „MÁM“ am 14.12.2024 im Festspielhaus St. Pölten.

Rando Hannemann

 

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