ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Hofesh Shechter mit „Theatre of Dreams“
Wie kann man das Bewusste, das Unbewusste und deren Grenzbereiche auf die Bühne bringen? Wie kann man das, was uns in unserem Kern ausmacht, tänzerisch und bildlich darstellen? Dem israelischen Choreografen Hofesh Shechter gelingt mit „Theatre of Dreams“ eine kongeniale Synthese aus Tanz, Musik, Licht und Bühnenbild, die so tief wie selten ein Tanz-Stück eintaucht in das, was der Mensch ist. Das Mysterium der Koexistenz und der Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unbewusstem wird zum Ausgangspunkt für diese Arbeit.
Hofesh Shechter: „Theatre of Dreams“ (c) Tom Visser
Der in Jerusalem geborene und seit 2002 in London lebende Choreograf und Musiker Hofesh Shechter tat sich für „Theatre of Dreams“, hier als Österreich-Premiere und in einer Festspielhaus-Koproduktion gezeigt, mit teils langjährigen, vertrauten künstlerischen Partnern zusammen. So mit dem irischen Lichtdesigner Tom Visser, mit dem er 2017 für seine Produktion „Grand Finale“ erstmals kollaborierte. Shechter und die israelische Kostümdesignerin Osnat Kelner kennen sich bereits von der Batsheva Dance Company. Neu im Team sind die drei Live-Musiker, die mit den 13 TänzerInnen der ebenfalls in London ansässigen, aber international besetzten Hofesh Shechter Company auf der Bühne stehen.
Seine feinsinnigen Beobachtungen der Menschen, ihres So-Seins, ihres individuellen und Sozial-Verhaltens, ihrer Emotionen, Ängste, Freuden, Bedürfnisse und Wünsche, ermöglichten dem Choreografen, all diese Aspekte in Zusammenarbeit mit seiner Company und unter Einbeziehung des seine Werke prägenden energiegeladenen, vor Kraft strotzenden Tanzes und seiner selbst komponierten, perkussiv dominierten Musik (Hofesh Shechter ist ausgebildeter Schlagzeuger mit jahrelanger Band-Erfahrung) in Bewegung umzusetzen.
Das Bühnenbild entstand mit der Unterstützung von Niall Black. Von den TänzerInnen bediente verschiebbare Vorhänge auf zwei Ebenen hintereinander staffeln den Raum in der Tiefe. Schnell geschaffene, imposant beleuchtete Spalten und verschieden große Lücken erlauben einen Blick auf das eigentlich verborgene Geschehen dahinter und damit in die Schichten des (Un-) Bewussten. Aber jenes Verdeckte drängt mit Macht nach vorn. Aus dem Unbewussten gesendete Signale in Form von Träumen, Alpträumen, Gefühlen, spontanen Regungen und Gedanken werden in Richtung Bühnenfront gesendet.
Hofesh Shechter: „Theatre of Dreams“ (c) Tom Visser
Ein Tänzer erscheint aus dem Publikum auf der Bühne, lauscht zum Herzschlag-Sound am Vorhang und verschwindet dahinter. Er stellt sich der Herausforderung, taucht ein in seine dunklen Bereiche. So beginnt „Theatre of Dreams“. In einem Spalt tanzt eine Gruppe. Das Licht wechselt zwischen dunkel und hell, zwischen Unbewusstem oder Traum und Bewusstem oder Wachen. Es donnert. Auch der Sound vermittelt, zwischen dumpf und langsam dann klar gespielt, jene zwei Bereiche und die Verbindungen, Wanderungen und gegenseitigen Einflussnahmen zwischen ihnen.
Aus Träumen und Wachsein in einer fast atemlos wechselnden Mischung kristallisiert sich ein Bild des Menschen heraus, das die massiven Einflüsse von Erlebtem und Erfahrenem als visuell-akustisches Bild in den Saal drückt. Parallel werden Sehnsüchte und Ideale, zutiefst empfunden vom Publikum, als Gemeingut präsentiert.
Sie verschieben die Spalte, variieren deren Breite, öffnen später dann auch einen zweiten, dahinter liegenden Vorhang teilweise, legen so verschiedene Aspekte in verschiedenen Schichten des Unbewussten frei. Der Tanz erzählt von (geträumten) Sehnsüchten und dem Angesicht der Hölle, von der psychischen Regression, von Angst vor Gleichschaltung und Ent-Individualisierung, vom Nicht-vom-Fleck-kommen (der Stagnation also) trotz größter Anstrengung, von der Entfremdung, Voodoo, Tanzunterricht, Glaube, Verfolgung, Gebundensein, Angst vor Fremdem, Ausgrenzung und Zugehörigkeit, Vereinigung, Verwirrung und Verunsicherung, Koexistenz, von dem also, womit sich unser Unbewusstes beschäftigt und wie und womit es ins Bewusstsein hineinwirkt.
Hofesh Shechter: „Theatre of Dreams“ (c) Tom Visser
Bei alldem fungiert die Band wie ein übergeordneter Souverän, wie die Seele, die beobachtet und leise alles will. Sie tanzen die Völkerverständigung. Arabien und Afrika, naher und mittlerer Osten, Balkan und Zeitgenössisches in einem wunderbar fließenden Stil-Medley. Sie vereinen Israelis und Palästinenser. Wenigstens hier. Und sie plädieren für die Gleichheit aller Menschen.
Die Kompanie überwältigt mit ihrer Physis, ihrer kraftvollen, hoch energetischen Tanzkunst. Beinahe noch beeindruckender ist die Ausdrucksstärke eines jeden Einzelnen. Das Kollektiv agiert in den Soli und Gruppenszenen einzigartig hochklassig. Getrieben wird es von einer Musik, die Shechter-typisch perkussiv betont, hier über weite Strecken von einem dreiköpfigen, in glutrote Anzüge gekleideten Ensemble mit wechselnder Instrumentierung live gespielt wird. Bläser, Gitarren, Keybord, Klavier, Drums ergänzen eingespielte elektronische Parts inklusive Chorgesang.
Zudem erklingen in dem Stück zwei Versionen des Songs „I Remember“ von Molly Drake, in dem sie die so verschiedenen Erinnerungen eines die selben Dinge gleichzeitig erlebt habenden Paares beschreibt. Einer sah das Positive, der Andere das Negative. Sie waren nicht „wir“, sondern „du und ich“. So einfach kann man die Wurzeln der Diversität von Menschen und deren Weltbildern beschreiben.
Hofesh Shechter: „Theatre of Dreams“ (c) Tom Visser
Die Hinweise auf aktuelle Ereignisse in der Welt sind mehr oder weniger eindeutig. Wozu gehirngewaschene, Ideologien gefügig gemachte Menschen fähig sind, erleben wir überall. Ob Gaza- oder Ukraine-Krieg, Hamas oder Huthi, religiöse Eiferer und Fundamentalisten oder politisch motivierte Extremisten, all diesen Phänomenen liegen die selben Mechanismen zu Grunde. Wer die ungeheure Kraft der unbewussten Triebkräfte im Menschen (an-) erkannt hat, wer deren tief vergrabenen, so mächtigen und doch elementaren Bedürfnisse adressieren kann, der ist in der Lage, Einzelne und Massen nach seinem Gutdünken zu benutzen und zu steuern.
Auch das Publikum wird zum Mittanzen animiert. Mit viel Freude und Offenheit tanzt der Saal, tanzt Samba, die Leichtigkeit und das unbeschwerte Leben, tanzt auch das kollektive Unbewusste und Bewusste, weil geschickt gepackt bei seinen Begehren. Um dieser Manipulierbarkeit zu entgehen, muss man sich seinen Schatten, wie C. G. Jung sie nannte, stellen. Die 13 TänzerInnen auf der Bühne tun das. Sie tauchen danach wieder ein ins Dunkel der Bühne. Wohin dieser Prozess, beginnend mit von allen Ängsten befreitem Anschauen seiner selbst, führt, zeigen sie am Ende.
Sie ziehen die vorderen Vorhänge zur Seite, machen einen dahinter hängenden, hell beleuchteten dritten sichtbar. Der ist schön, geschmückt mit geschwungenem Volant, und geschlossen. Er ist wie ein Portal zu einer noch verschlossenen Welt, wie die Verheißung einer nicht gekannten und erlebten Glückseligkeit, erlangt durch die Integration all der von den Träumen (und anderen Kurieren) kommunizierten unbewussten Persönlichkeits-Anteile. Er ist die Botschaft von der Unschuld und Reinheit des Selbst, also vom Frieden. Im Einzelnen und somit in der Welt.
Hofesh Shechter: „Theatre of Dreams“ (c) Tom Visser
Das Saallicht wird hochgefahren. Als wollten sie sagen: Werdet auch ihr euch eurer selbst bewusst! Schafft Frieden! Denn der ermöglicht, was sie vordem zeigten in einem Tanz: Die Vereinigung von Kulturen und Religionen, die Entmachtung von Ideologien und Weltbildern. „Theatre of Dreams“ ist ein Stück über weit mehr als (Alp-) Träume. Es ist ein Traum von einer Gemeinschaft geheilter, weil bewusster Menschen. Wahrlich utopisch, aber der einzig mögliche Weg in eine gewaltfreie, humanistische Gesellschaft.
Das enthusiasmierte Publikum feierte dieses aus der Verschmelzung von Tanz, Licht, Bühne und Musik zu einem künstlerischen Organismus entstandene ungemein poetische Werk mit frenetischem Jubel und Standing Ovations.
Hofesh Shechter mit „Theatre of Dreams“ am 16.05.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann