St. PETERSBURG: ”Don Carlo” am Mariinsky-Theater (29./30.11.2012)
Das St. Petersburger Mariinsky-Theater ist seit der Regentschaft VALERY GERGIEVs in zunehmendem Maße zu einer „touring company“ geworden. Gastspiele dienen nicht nur dazu, den Ruhm dieses ehrwürdigen Theaters und seines umtriebigen Chefs zu mehren, sondern auch zur Finanzierung solch Prestige reicher Projekte wie jetzt des Baus des neuen Opernhauses, das im Mai 2013 eröffnet werden soll. Wie international üblich, werden diese Gastspiele langfristig vorbereitet – eine Planung, die ich mir auch für den Tagesbetrieb zu Hause wünschte, bei dem ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, das sehr/zu viel „mit der heißen Nadel genäht wird.“ So auch bei der Premiere von Verdis „Don Carlo“, für das das Mariinsky im Prinzip eine Besetzung hat, bei der den Stimmengourmets das Wasser im Mund zusammen läuft: als Eboli Borodina oder Semenchuk, als Carlo Skorokhodov, als Posa Markov, Sulimsky oder Gerello, als Filippo Ildar Abdrazakov, als Großinquisitor Tanovitski. Jedoch musste man feststellen, als man vor ca. 2 Monaten die Besetzung diskutierte, dass keiner dieser Stars zur Verfügung stehen würde. Natürlich kann das Theater sich mit seinem über 100 Köpfe starken Ensemble glücklich schätzen, jede einzelne Rolle 3fach zu besetzen, doch nicht durchgehend auf einem international konkurrenzfähigen Niveau.
Grundsätzlich sollte auch die Frage erlaubt sein, warum eine „Don Carlo“-Produktion, die erst 1999 ihre Premiere erlebt hatte, bereits jetzt durch eine neue abgelöst wird. Gergiev, ständig auf der Suche nach Künstlern, die dem Haus ein internationales Profil gewähren, hatte 2011 an der Mailänder Scala „Turandot“ dirigiert. Regisseur war der vom Schauspiel her kommende GIORGIO BARBERIO CORSETTI, der auch im kommenden Frühjahr an der Scala den von Gergiev dirigierten „Macbeth“ inszenieren wird. Barberios im Programmheft abgedruckte Eindrücke des „Carlo“ lesen sich freilich interessanter als das, was auf der Bühne zu sehen ist. Hier herrscht Dunkelheit vor, selbst in der Szene, in der sich die Hofdamen über Sonne und Hitze auslassen. Die Kostüme sind luxuriös und historisch korrekt. Als einzige Dekoration (Barberio ist zugleich sein eigener Bühnenbildner) dient eine Hausfassade, auf die sich mehr oder weniger Sinn machende Videos projizieren lassen. Laut Barberio haben diese Videos die Aufgabe, die Emotionen der Darsteller zu verdeutlichen. Sollte dies nicht die Aufgabe des Regisseurs sein, die Personen so zu führen, dass sich die Emotionen dem Zuschauer erschließen? Für einen vom Schauspiel kommenden Regisseur unterscheidet sich die Führung der Sänger reichlich wenig vom Herkömmlichen. Warum also eine Neuinszenierung?
Leider war auch der musikalische Eindruck recht durchwachsen. Gergiev und sein Hauptorchester waren erst wenige Tage vor der Premiere von einer mehrwöchigen Asien-Tournee zurückgekommen, die musikalische Vorbereitung wie üblich einem der Hausdirigenten (PAVEL SMELKOV) überlassend. Die verbleibende Zeit reichte gerade einmal für zwei Proben mit dem Orchester und eine mit den Abendsolisten. So bewegte sich die Premierenleistung unterhalb des vom Mariinsky und von diesem Dirigenten gewohnten Niveau, mehr eine Art Generalprobe als eine Premiere als Höhepunkt der Vorbereitungszeit. Im Orchester waren ungewohnte Patzer zu hören, der Chor wirkte inhomogen, und Gergievs Aufgabe glich angesichts nicht immer koordinierter Tempi einiger Solisten mehr der eines Verkehrspolizisten, der Graben und Bühne zusammenhalten musste, statt dem Abend Profil zu verleihen. Obwohl auf der Homepage des Mariinsky-Theaters immer noch Gergiev als Dirigent der Vorstellung am 30.11. genannt wird, stand mitnichten der Chef am Pult, sondern Smelkov. Gergiev hatte wegen einer Trauerfeier in seine kaukasische Heimat fliegen müssen. Obwohl weniger vom Genius geküsst als Gergiev, war bei Smelkovs Interpretation doch nicht zu überhören, dass er es war, der die Vorbereitung geleitet hatte. Straffere Tempi und ein besseres Zusammenspiel zwischen Bühne und Orchester sorgten somit zu einem pannenfreieren musikalischen Unterbau.
Als Filippo waren zwei Sänger angesetzt, die im westlichen Ausland vornehmlich als Wagner-Sänger gehandelt werden: YEVGENY NIKITIN vornehmlich im Heldenbaritonfach, sein Kollege MIKHAIL PETRENKO im Bassfach. Jedoch war nicht zu überhören, dass sich Nikitin in der Basspartie des Filippo deutlich wohler fühlte als Petrenko, der sich mit seinem hellen Timbre stark vom gewohnten Klang eines Bassisten unterscheidet. Nikitin gelang denn auch mit seinem weich timbrierten hohen Bass eine eindrucksvolle Interpretation, während Petrenko der starken Führung durch einen guten Regisseur bedurft hätte, um größeres Interesse zu wecken. Wie immer, wenn ich VICTORIA YASTREBOVA in Spintopartien höre, muss ich Abstriche machen, da ihre Stimme für dieses Fach (noch?) nicht die eigentlich notwendigen Ressourcen besitzt, doch bin ich voller Bewunderung, wie sie ihr eher schlankes Material den Anforderungen anpasst, ohne ihm künstlich Volumen zu verleihen. Technisch makellos, ruhte ihre Stimme auf dem Atem, und es gelangen Yastrebova herrliche Phrasierungen. Dadurch unterschied sie sich wohltuend von der Elisabetta des zweiten Abends (EKATERINA SHIMANOVICH), bei der mich wie immer das schnelle Vibrato ihrer Tonproduktion irritierte. Unter Abwesenheit solcher Stars wie Borodina und Semenchuk war Eboli zwei bewährten Haussängerinnen anvertraut: ZLATA BULYCHEVA und OLGA SAVOVA. Beide, bekannt dafür, ein bestimmtes Niveau nur selten zu über- und nie zu unterschreiten, entledigten sich ihrer Aufgabe mühelos, ohne größeren Eindruck zu hinterlassen. Der Premieren-Posa ALEXANDER GERGALOV war unüberhörbar durch eine schwere Indisposition beeinträchtigt und benötigte seine ganze Technik und Routine, den Abend einigermaßen über die Runden zu bringen. Im Gegensatz zu ihm, der dem Ensemble schon über 20 Jahre lang angehört, ist der Posa des zweiten Abends VICTOR KOROTICH noch Mitglied der Mariinsky-Akademie. Zwar fehlt es seiner Stimme noch ein wenig an Volumen, doch Timbre und Stilsicherheit lassen in ihm einen guten Verdi-Bariton in spe erkennen. Mit VICTOR LUTSYUK und AVGUST AMONOV war die Titelpartie mit (zu) schweren Stimmen besetzt. Während Lutsyuk sich erfreulicherweise um Differenzierung bemühte, war Amonovs Leistung von einem Einheitsforte geprägt – schade, dass gerade als Carlos ein bedauerliches Vakuum einen besseren Eindruck verhinderte. SERGEY ALEKSASHKINs Stimme wies als Großinquisitor ein bedenkliches Altersvibrato auf, beeindruckte jedoch durch eine persönlichkeitsgeprägte, bedrohliche Stimmdarstellung. Als Carlo V. gleichmaßen überzeugend YURI VOROBIEV und VLADIMIR FELYAUER, hervorragend als Stimme vom Himmel ANASTASIA KALAGINA.
Sune Manninen