Ein Wochenende am Mariinsky-Theater – 18./19.2.
Wer als Gast aus dem Ausland dem Mariinsky-Theater einen Besuch abstatten will, ist gut beraten, dann zu kommen, wenn der Hausherr VALERY GERGIEV zu einem seiner raren Gastspiele in der Newa-Metropole weilt. Man kann sicher sein, dass dann hohe Qualität geboten wird. Allerdings erinnert mich die Mariinsky-Planung immer an eine Art Wundertüte, denn via Homepage des Theaters sind die Informationen so spärlich, dass man eine ausgesprochene Neigung zu Überraschungen mitbringen sollte.
Für das von mir ins Auge gefasste Wochenende waren neben der Premiere des Musicals „My Fair Lady“ (in russischer Sprache!) zwei Wagner-Galas sowie Prokofiews Mammut-Oper „Krieg und Frieden“ angekündigt, mit Ausnahme des Musicals alles von Gergiev dirigiert. In der Wagner-Gala am 18.2. sollten NINA STEMME und RENÉ PAPE in Szenen aus Wagners „Walküre“ mitwirken, die im letzten Moment auch für den 17. angesetzt wurden. Der Verdacht lag also nahe, dass mit ihnen eine CD dieses Werks aufgenommen werden sollte. Pape sang auch am 17., war jedoch nach eigenen Worten krank, so dass er das Konzert am 18. absagte, aber (oh Wunder) am folgenden Tag urplötzlich wiederhergestellt war, so dass die Aufnahme der Wotan-Szenen fortgesetzt werden konnte. Eine merkwürdige Entscheidung, einem zahlenden Publikum einen (allerdings hervorragenden) Ersatz vorzusetzen, damit man in den Aufnahmesitzungen die nur für eine kurze Zeit zur Verfügung stehenden Weltstars Stemme und Pape nutzen konnte. Ein weiterer Weltstar hatte seine Part bereits zuvor eingespielt: Für diese Neueinspielung der „Walküre“ schmückt sich das Mariinsky-Label mit niemand Geringerem als Jonas Kaufmann als Siegmund! Ich hoffe, dass diese CD nicht als „Live-Aufnahme“ verkauft wird. Patchwork!!!
Doch zurück zu dem, was tatsächlich stattfand. Nachdem am 17. Stemme und Pape die Brünnhilde-Wotan-Szenen aus der „Walküre“ gesungen hatten, setzte der allmächtige Maestro für den 18. den kompletten dritten „Walküre“-Aufzug an. Für den absagenden Pape fand man in dem kommenden Bayreuther „Holländer“-Interpreten YEVGENY NIKITIN einen exzellenten, dazu hauseigenen Ersatz. Jedoch: Nikitin hat nach eigener Aussage die Noten zu diesem Werk erst an diesem Abend zum ersten Mal gesehen. So wurde ein Kapellmeister neben ihm plaziert, und Nikitin sang vom Blatt. Zwar mit einer sehr guten Diktion, doch verständlicherweise rhythmisch nicht immer vollkommen exakt, ließ Nikitin doch mit diesem Husarenritt erahnen, dass er ein oder der Wotan der Zukunft sein wird. Eine genuine Heldenbariton-Stimme! Bayreuth kann sich auf seinen Holländer freuen. Nina Stemme würde ich heute als die Brünnhilde (zumindest in „Walküre“) bezeichnen. Diese Leistung machte auch mich, der ich Nilsson, Varnay, Mödl, Ligendza in der Vergangenheit hörte, glücklich. Wunderschöne Stimme, vollkommenes Stilgefühl, perfekte Diktion – was will man mehr? Die hauseigene Sieglinde der EKATERINA SHIMANOVICH konnte da nicht ganz mithalten; sie irritierte mit teilweise greller Tongebung und zu viel Vibrato. Die Walküren waren eine Mischung aus erfahrenen und ganz jungen Sängerinnen des Theaters, teilweise noch der Akademie zugehörig – ganz ausgezeichnet. Und der Hausherr? Gergiev gehört für mich zu den ganz großen Wagner-Dirigenten, ein Mann, der eigentlich nach Bayreuth gehört, was aber auf Grund seines chaotischen Termin-Kalenders nie geschehen wird.
Wer naiverweise geglaubt hat, Gergiev würde für die konzertante Wiedergabe von Prokofiews „Krieg und Frieden“ (19.2.) proben (zumal es einige Sängerdebüts geben sollte), sah sich getäuscht. Der allmächtige Herrscher über das Mariinsky ließ kurz vor offiziellem Beginn der Vorstellung nur ein paar Szenen kurz anspielen und widmete die Zeit lieber dem wiedergenesenen Pape für die Aufnahme der Wotan-Szenen aus der „Walküre“ (jedoch ohne Partner!). Das Orchester kam so in den Genuss, auf die „Walküre“-Aufnahme Prokofiews wahrlich nicht so kurze Oper quasi pausenlos folgen zu lassen. Laut Gergiev gibt es am Mariinsky eine Gewerkschaft, die die Interessen der Musiker vertritt. Diese Gewerkschaft hat auch einen Namen: Gergiev!
Wer sich von diesen Backstage-Hintergrundinformationen nicht beirren ließ, wurde Zeuge einer ganz hervorragenden konzertanten Aufführung, aus der einige Sänger herausstachen. Obwohl das Theater mit den Damen Kalagina, Mataeva, Chepurnova drei Sängerinnen der Natasha im Ensemble hat, bekam eine junge Sängerin die Chance, die diese Partie noch nie gesungen hat, sondern gerade vom Rimsky-Korsakov-Konservatorium an die Mariinsky-Akademie (sprich: Opernstudio de luxe) wechselte. EKATERINA GONTCHAROVA gelang (ohne Probe!) eine Leistung, die an die großen Natashas des Mariinsky (u.a. Netrebko) nahtlos anknüpfte. Eine sehr sicher geführte, individuell timbrierte Stimme von großer Ausdruckskraft. Auf den Verlauf dieser Karriere bin ich gespannt! Auch VLADISLAV SULIMSKY sang den Andrey Bolkonsky das erste Mal. Ein genuiner, dunkel timbrierter Verdi-Bariton mit ungeheurer Strahlkraft in der Höhe. Ganz ausgezeichnet!!! Auch der junge SERGEY SKOROKHODOV zeigte mit seinem fast italienisch timbrierten Tenor (er sang Anatoli Kuragin), warum Zubin Mehta ihn für Cherubinis „Medea“ nach Valencia engagierte und ihn zukünftige Gastspiele nach Berlin und München führen werden, ganz abgesehen vom Bacchus 2013 in Gyndebourne (Ariade : Soile Isokoski). Die gesamte Aufführung zeigte den hohen Level, den das Mariinsky-Ensemble besitzt, angefangen von den Veteranen IRINA BOGACHOVA und MIKHAIL KIT (Kutusow) über den auch international renommierten VASILY GERELLO (Napoleon) bis hin zu den ganz ausgezeichneten Mezzosopranistinnen YEKATERINA EVSTAFIEVA (Helène) und YULIA MATOCHKINA (Sonya). Das Mariinsky kann stolz sein auf dieses Weltklasse-Ensemble.
Und der Hausherr? „Krieg und Frieden“ ist eines der Lieblingswerke Gergievs, und es ist begeisternd, in welch überlegener Manier er Solisten, Chor und Orchester (und dies nach langen Aufnahme-Sitzungen) durch dieses etwas 3 ½ Stunden lange Werk ermüdungslos führt, Einsätze meist mit den Augen gebend, doch reaktionsschnell auf Temposchwankungen reagierend.
Und „My Fair Lady“? Nun, ich muss bekennen, dass es vielleicht nicht die beste Idee war, nach der nachmittäglichen Wagner-Gala am Abend die „My Fair Lady“-Premiere zu besuchen. Deshalb nur so viel: ROBERT CARSEN (Regie) war eine schwungvolle Umsetzung gelungen, die sicherlich das Mariinsky-Repertoire schmücken wird. Der Amerikaner GAVRIEL HEINE, einer der Haus-Dirigenten am Mariinsky, ist natürlich in diesem Metier zu Hause, und als Eliza Doolittle war die Preisträgerin des letzten Rimsky-Korsakow-Gesangswettbewerbs aufgeboten: GELENA GASKAROVA, die gekonnt die Dialog- und Gesangsanforderungen bewältigte. Zwar mutet es merkwürdig an, dass sich das Mariinsky bei all den Lücken im russischen Repertoire nun solchen Werken wie „My Fair Lady“ oder „Pelléas et Mèlisande“ (Premiere im April) zuwendet, doch hier gilt das Wort des „Zaren“, also Valery Gergievs. Ein Mirakel für den westlichen Besucher, aber faszinierend.
Sune Manninen