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ST.PETERBURG/ Mariinsky-Theater: Shchedrins „LOLITA“ nun auch am Mariinsky-Theater

17.02.2020 | Allgemein, Oper

Shchedrins „Lolita“ nun auch am Mariinsky-Theater – 13. & 15.02.2020

Im Prinzip kann sich der russische Komponist Rodion Shchedrin glücklich schätzen, in VALERY GERGIEV einen so engagierten Advokaten seiner Musik zu besitzen. Viele seiner Orchesterwerke werden regelmäßig aufgeführt, ob zu Hause oder auf Tournee. Im Repertoire des Mariinsky-Theaters befinden sich nicht nur drei seiner Ballette, sondern auch mit einer Ausnahme alle seine Opern, entweder in szenischer oder konzertanter („Boyarina Morozova“) Form. Die Ausnahme ist seine Oper „Lolita“, die Gergiev 2008 beim Rostropovich-Festival in Samara und zu Hause in St. Petersburg geleitet hatte, jedoch nur als Konzertversion und lediglich den 2. Akt. So war es nicht weiter verwunderlich, dass bereits vor der Prager Premiere dieses Werks im Oktober 2019 das Gerücht auftauchte, das Mariinsky könnte daran interessiert sein, diese Produktion zu übernehmen. In der Tat fand sich Gergiev zu einer der Reprisen im Prager Stände-Theater ein und entschied, sie nicht lediglich nur auszuleihen, sondern komplett aufzukaufen. Sie befindet sich also nun im Besitz des Mariinsky-Theaters, und etwaige daran interessierte Opernhäuser (im Gespräch ist Bilbao) müssen sie nun ausleihen.

Es gehört zu den festgeschriebenen Gesetzen dieses St. Petersburger Kunstinstituts, dass Gergiev sich das „ius primae noctis“ vorbehält und anderen Dirigenten die Einstudierung und folgende Reprisen überlässt. Diese Aufgabe wurde dem jungen deutschen Dirigenten russischer Herkunft SERGEY NELLER überantwortet, der in Prag einen überaus nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte. Gergiev selber stand nur für die letzten beiden Schlussproben zur Verfügung und dirigierte am Abend dieser Proben solche Werke wie die „Bayreuther Lokalposse“, wie Hans Knappertsbusch seinerzeit den „Parsifal“ nannte, und Debussys „Pelléas et Mélisande“. Da zwischen den beiden „Lolita“-Premieren ein Tag lag, konnte er an diesem Tag noch eine „Salome“ bzw. vor der zweiten „Lolita“ noch nachmittags Ravels „Daphnis et Chloe“ einschieben.

Warum ich dieses Pensum erwähne, das für Gergiev doch eher die Regel ist als die Ausnahme? Die große bulgarische Sopranistin Ghena Dimitrova hatte einmal anlässlich eines Gesangswettbewerbs gesagt, sie erwarte von den Teilnehmern, dass sie gezwungen sei zuzuhören. Und genau dies vermisste ich bei Gergievs Dirigat. Zugegebenermaßen ist er wie auch seine Musiker ein perfekter Vom-Blatt-Leser, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das reine Exekutieren der richtigen Notenwerte (des Orchesters) nicht ausreichte, beim Zuhörer größeres Interesse an dieser nicht einfachen Partitur auszulösen. In diesen beiden von Gergiev geleiteten Aufführungen hatte das Werk „Längen, gefährliche Längen“, wie es in Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“ heißt, Längen, die mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wären, wenn ich nicht bei Sergey Nellers Prager Dirigat einen total konträren Eindruck gewonnen hätte. Nellers Tempi waren durchwegs flüssiger, während bei Gergievs wesentlich langsameren Tempi die Musik zeitweise auf der Stelle zu treten schien und nicht vom Fleck kam. Es soll hier nicht besonders hervorgehoben werden, dass Nellers äußerst präzise Zeichen- und Einsatzgebung in Prag mit Sicherheit Sängern und Orchestermusikern eine größere Hilfe bei ihrer schwierigen Aufgabe war als das übliche Geflimmere der Finger und Hände Gergievs. Dies ist nun einmal sein Stil, die Musiker sind daran gewöhnt, und es dient normalerweise nicht als Ersatz für eine Interpretation. Ich wiederhole noch einmal: All dies wäre mir mit Sicherheit nicht negativ aufgefallen, wenn ich nicht in Prag erlebt hätte, dass es auch anders geht. Der Komponist hätte diesmal einen überzeugenderen Advokaten verdient, aber wie so viele seiner Kollegen wird er wohl glücklich darüber sein, dass er überhaupt aufgeführt wird. „Und in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied“.


Sehr glücklich sieht der Dirigent auf diesem Foto nicht aus, aber vielleicht dachte er auch gerade daran, dass er am nächsten Tag nachmittags ein Sinfoniekonzert und abends „Simon Boccanegra“ mit Plácido Domingo zu leiten hatte. Auf dem Foto (Archiv Sune Manninen) von links Petr Sokolov (Humbert), Valery Gergiev, Pelageya Kurennaya (Lolita), Rodion Shchedrin & Irina Soboleva (Studienleiterin).

Das Dirigat Gergievs war allerdings der einzige Wermutstropfen einer Aufführung, die als russisches Spezifikum eine Altersbeschränkung hatte und nur von Personen älter als 18 (!) besucht werden durfte. Die kongeniale Umsetzung der Intentionen Shchedrins (nicht zu vergessen der Romanvorlage Vladimir Nabokovs) durch die slowakische Regisseurin SLÁVA DAUBNEROVÁ ist nicht nur im Online-Merker anlässlich der Prager Premiere ausgiebig gerühmt worden, so dass nur zu konstatieren bleibt, dass ihr und ihrem Team die nicht zu unterschätzende Transferierung der Produktion von der kleineren Bühne des Stände-Theaters auf die größeren Dimensionen des (neuen) Mariinsky-Theaters vollkommen gelungen ist.

Wie bei Frau Daubnerovás Regie kann ich mir auch bei den Sängern zwar eine andere, aber keine bessere Interpretation der vier Hauptrollen vorstellen, und es war ein wahrer Glücksfall, dass für die erste Premiere am 13.2. die Prager Sänger (eine Kombination der beiden dortigen Premieren) gewonnen werden konnten. PELAGEYA KURENNAYA, die vom Komponisten als seine Lieblingssopranistin bezeichnet wird, ist das Idealbild einer Lolita, und es wird nachfolgenden Lolitas schwerfallen, ihrer eindrucksvollen Leistung auch nur nahe zu kommen, so groß ist die stimmliche wie darstellerische Identifikation mit der Rolle, die sie sich ganz zu „ihrer“ gemacht hat. Von jugendlicher, teilweise sogar burschikoser Ausstrahlung machte sie auf ganz natürliche, nie aufgesetzte Weise die Faszination dieser Nymphette auf Humbert deutlich. Die vokale Ausformung ihres überaus diffizilen Parts war von beeindruckender Makellosigkeit. PETR SOKOLOV (Humbert) muss ich Abbitte leisten. Hatte ich ihm in Prag mit seinem lyrischen, aber sehr tragfähigen Bariton eine fehlerlose Leistung attestiert, glaubte ich, eine gewisse Indifferenz seiner Darstellung monieren zu müssen. Hier am Mariinsky, von meiner Kaufkarte (!) in der 2. Reihe aus, konnte ich dieses Verdikt nicht mehr nachvollziehen – wie seiner Lolita-Partnerin gelang auch Sokolov eine stimmlich wie darstellerisch vollkommene Identifikation mit der Figur des den Reizen Lolitas verfallenen Pädophilen.


Probenpause mit Sláva Daubnerová (Regie), Aleš Briscein (Quilty), Pelageya Kurennaya (Lolita) & Petr Sokolov (Humbert). Foto: Facebook

Der tschechische Tenor ALEŜ BRISCEIN hat mit seinem Clare Quilty die Messlatte für alle nachfolgenden Kollegen sehr hochgelegt. Kaum zu glauben, dass er, der wenige Tage zuvor am Prager National-Theater noch als Lohengrin auf der Bühne stand, hier als ein perfekter Charaktertenor agierte. Leider stand er nur für die Premiere am 13.2. zur Verfügung, so dass am 15. diese Rolle dem jungen ALEXANDER MIKHAILOV anvertraut wurde, einem Tenor, der vom Carmina Burana-Schwan bis hin zu Strauss‘ Bacchus in vielen verschiedensten Partien angesetzt wird, was nicht von besonderer Kenntnis bzw. Rücksichtnehme der Mariinsky-Administratoren zeugt. Mit seinem angenehm timbrierten lyrischen Material begann er gut, konnte sich aber in der Todesszene nicht gegen die Klangmassen des Orchesters durchsetzen. Laut Aussage des Komponisten ist DARIA ROSITSKAYA die „weltbeste Charlotte“, eine Meinung, der ich nicht widersprechen möchte. An einem kleineren St. Petersburger Theater engagiert, singt sie dort solche Rollen wie Carmen oder Cenerentola. Ihre Kolleginnen vom Mariinsky-Theater müssen diese (verführerische) Einheit aus Stimme und Spiel erst noch übertreffen. Ein interessantes Inszenierungsdetail gibt Aufschluss darüber, wie die Regisseurin in die Ideenwelt Nabokovs und Shchedrins eingedrungen ist. Beim Fesselspiel mit Gartenschlauch, dem Vorspiel zur Sexszene zwischen Charlotte und Humbert, streift dieser ihr einen von Lolitas weißen Strümpfen über. Zwar schläft er mit Charlotte, doch in seinen Gedanken ist Lolita an ihrer Stelle.

Es macht den Rang des Mariinsky-Theaters aus, dass auch die diversen kleineren Partien auf durchwegs gutem Niveau doppelt besetzt waren, zum Teil mit Kräften, die sonst in Rollen des 1. Fachs auf der Bühne stehen. So waren sich eine Eboli und Amneris (ZLATA BULYCHEVA) und eine FroSch-Amme und Klytämnestra (ELENA VITMAN) nicht zu schade, die Partie der Schuldirektorin Miss Pratt zu übernehmen, während der junge Bass GLEB PERYAZEV als Mr. Chatfield auffiel, dem schon Rollen wie Ruslan oder der Mozart-Figaro anvertraut wurden.

Beide Premieren waren ausverkauft, doch sei nicht verschwiegen, dass sich die Reihen bei beiden Vorstellungen nach der Pause leerten. Das Publikum jedenfalls, das bis zum Schluss einer langen Aufführung ausharrte, die mit der bei Gergiev normalen mindestens 20minütigen Verspätung begonnen hatte, feierte alle Mitwirkenden mit langanhaltendem Beifall. Die Zukunft wird zeigen, wie weit das Mariinsky-Personal in künftigen Reprisen den idealen vokalen und darstellerischen Vorgaben des „Traum-Quartetts“ Kurennaya – Sokolov – Rositskaya – Briscein nahekommen wird, dann aber hoffentlich mit einem Dirigenten, der inspirierter und inspirierender ist.

Pikante Details am Rande: Noch am Morgen der Premiere war auf der Homepage des Theaters zu lesen, welche 3 bis 4 Sänger die Hauptrollen probten, nicht aber, wer auserkoren sei, sie am Abend zu singen. „Russisches Roulett“ für die Künstler? Vielleicht. Aber mit Sicherheit für potenzielle Besucher des Hauses. Wenn es zudem früher im Westen vorgekommen war, dass gastierende Künstler sich weigerten, weiterhin aufzutreten, wenn sie ihre Gage nicht spätestens in der Pause ausbezahlt bekommen hätten, so hätte diese Gepflogenheit am Mariinsky zum Abbruch der Premieren geführt. Dort hatten 3 der Gastsänger sowie die Regisseurin weder einen Vertrag erhalten noch die Höhe ihrer Gage erfahren. Gutsherrenart à la Mariinsky. Dem Vernehmen nach hatte einer dieser Gäste sich beim Operndirektor nach der Höhe der Gage erkundigt und die bemerkenswerte Antwort erhalten, da müsse er erst Valery Gergiev fragen!!!!????

Sune Manninen

 

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