Die Entführung aus dem Serail – Theater St.Gallen, 13.9.2014 (Premiere)
Wie wörtlich (und uninterpretiert) darf ein Regisseur heute den Begriff „Singspiel“ nehmen und – wenn er ihn wörtlich nimmt – wie konsequent muss er bei der Umsetzung dann bleiben ? Zwei Fragen, die mir seit dem Fallen des Vorhanges nach der gestrigen Premiere von „Die Entführung aus dem Serail“ am Theater St.Gallen nicht aus dem Kopf gehen wollen. Ist diese von Wolfgang Amadeus Mozart als Auftragswerk nach einem Bühnenstück von Christoph Friedrich Bretzner (Libretto: Johann Gottlieb Stephanie d.J.) komponierte Türkenoper wirklich so harmlos, wie das der Regisseur dem Publikum zeigen möchte ? Soll man den Stoff wirklich auf die Beziehungsdreiecke Konstanze-Belmonte-Bassa Selim auf der einen Seite, Blonde-Pedrillo-Osmin auf der anderen Seite reduzieren und die kulturelle Konfliktebene – da Europa, dort Orient außer Acht lassen ? Die „Türken“ als Synonym für eine fremdländische Kultur, waren für Europäer im 18.Jahrhundert so unverstanden, wie es die Islamisten für die christlich geprägte westliche Kultur heute sind. Man soll den Bassa oder Osmin nicht als verkommene Taliban zeichnen und die „Entführung“ ist auch keine Vortransformation irgendwelcher Kriege im nahen oder mittleren Osten; aber weichgespült und mit pastellfarben gezeichnet ist sie sicher auch nicht.
Eine auch nur ansatzweise politische Deutung des Stoffes lehnt Regisseur Johannes Schmid dezidiert ab, weil – erläutert er in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch – er dies angesichts der aktuellen Situation als Zynismus empfände. Gemeinsam mit seinem Team (Bühnenbild und Kostüme: Michael Kraus, Licht: Andreas Enzler, Choreographie: Jasmin Hauck und Cecilia Wretemark), erzählt er eine Geschichte mit wenigen Ecken und Kanten, die so auch kinder- und jugendtheatertauglich ist (und Schmid hat die „Entführung“ ja auch vor einigen Jahren bei den Salzburger Festspielen in einer Version für Kinder inszeniert). Die Vorgeschichte der Oper, also die Entführung, zeigt der Regisseur parallel zum Vorspiel: da wogt das Meer mit den Mitteln des Barocktheaters, Belmonte steckt seiner Konstanze auf der vom Publikum gesehenen linken Bühnenseite den Verlobungsring an den Finger – beobachtet vom anderen Paar aus dem rechten Bühnenportal, Piraten trennen Belmonte von den drei anderen; über dem Geschehen thront der Bassa und beobachtet die Szene auf einer hochgezogenen Treppe sitzend von oben. Ein Bild, das sich zum Schlusschor wiederholen wird. Das für schnelle Verwandlungen zwischen Garten und Serail konzipierte Bühnenbild zitiert einen als orientalisch anzusprechenden Baustil, die Kostüme schwanken zwischen pseudoarabisch (Kopftücher für die Sklavinnen, turbanähnliche Kopfbedeckungen für die Männer), 70er-Jahre (Sommerkleid und Pumps für Konstanze, Blonde im Hauskleid, an das Design von Hawaiihemden erinnernde Jacken für Belmonte und Pedrillo) und Historismus. Die Personenführung bleibt häufig eindimensional und plakativ, erinnert manchmal an die running Gags früherer Filme und überschreitet manchmal die Grenze der Peinlichkeit. Da dürfen der Chor und die Statisterie sich im Takt wiegen oder im Gleichschritt über die Bühne ziehen; der Bassa brüllt seine Wut über die Liebesverweigerung Konstanze ins Gesicht – und vergewaltigt während ihrer Traurigkeit-Arie eine seiner anderen Frauen, da er sich während Martern aller Arten mit den Dornen eines Rosenstraußes selbst verletzt, sollte er vielleicht gelegentlich die Praxis von Dr. Freud besuchen. Pedrillo kämpft mit den für die Entführung vorgesehenen Leitern und darf dabei möglichst tollpatschig spielen. Dass beide Frauen deutlich Sympathie für die alten wie die neuen Männer zeigen, kann man aus dem Libretto herauslesen, aber muss Blonde derart hantig auftreten ? Osmin, häufig mit dickem Bauch oder als alter ego des Bassa interprtiert, erinnert in dieser Inszenierung an einen Latin Lover, der nicht verstehen will und kann, dass nicht auch diese Engländerin seinem Machogehabe erliegt. Wenn Belmonte und Pedrillo in den Palast eindringen wollen, steht hinter jeder geöffneter Tür ein abweisendes Osmin-Double – das Publikum lacht, die „Zauberflöte“ lässt grüßen. Interessant, dass die beiden Paare zum Ende des Stückes in unterschiedliche Richtungen abgehen; dass Blonde dabei auch Osmin mitnimmt, ist eine neue Variante.
Das musikalische Niveau könnte unterschiedlicher nicht sein. Ein Hoffnungsträger für eine künftige Karriere ist der junge Levente Páll als Osmin. Zwar muss seine Stimme noch reifen und an Volumen gewinnen, aber in ihm wächst ein profunder schwarzer Bass heran. Der eine oder andere Stimmscout sollte ihn aufmerksam beobachten. Roman Payer, Belmonte, singt die anspruchsvolle Partie (die immer wieder gestrichene Baumeister-Arie ist dabei) auch in den Koloraturen überzeugend; dass ich mir für einen Mozarttenor eine hellere Stimme wünsche, bleibt mein subjektives Empfinden. Nik Kevin Koch ist ein spielfreudiger und stimmlich rollengerechter Pedrillo; Michael Ransburg kann mich als Bassa Selim nicht überzeugen, aber das ist wohl primär der Regie geschuldet. Nicht optimal besetzt ist für mich Alison Trainer als Blonde; vor allem in der Höhe zu schrill klingt ihr Sopran. Mit Jennifer O´Loughlin hat das Theater St.Gallen eine Sängerin als Gast, die die Konstanze schon an bedeutenden Häusern erfolgreich gesungen hat und auch hier im Mittelpunkt des Ensembles steht. Ohne merkliche Anstrengungen meistert sie die anspruchsvolle Partie; überzeugend in Mimik und Gestik spielt ist sie eine zwischen zwei Männern zerrissene Frau. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Otto Tausk, der mit sparsamer Gestik die Solisten, den sauber singenden Chor (Einstudierung Michael Vogel) und das Sinfonieorchester St.Gallen koordiniert ohne zu dominieren.
Michael Koling