Simon Karstens
UNTERGEGANGENE KOLONIALREICHE
GESCHEITERTE UTOPIEN IN AMERIKA
294 Seiten, Verlag Böhlau, 2022
In Zeiten wie diesen, wo die koloniale Debatte mit lange nicht geführter Heftigkeit neu entbrannt ist, scheint das unangefochtene Täter-Opfer-Szenario festgeschrieben. Der weiße Mann als ruchloser, verbrecherischer Eroberer, die indigenen Völker überall als hilflose Unterdrückte. Die Aufforderung, dieses Narrativ zu hinterfragen und differenzierter zu sehen, geht von dem Buch „Untergegangene Kolonialreiche“ von Simon Karstens aus.
Der Privatdozent an der Universität Trier, Spezialist für die Geschichte der Frühen Neuzeit, zeigt, dass der Griff des weißen Mannes nach den beiden Amerikas keinesfalls eine durchgehende Erfolgsgeschichte war, und dass die indigenen Völker dem Ansturm durchaus gewachsen gewesen wären – hätten die Eindringlinge nicht ihre Feuerwaffen mitgebracht.
Gewiß, Cortes und Pizarro eroberten für die Spanische Krone Mexiko und Peru und setzten damit einen Fluß von Gold und kostbaren Handelswaren in Richtung Europa in Gang. Portugal (das vom Papst den heutigen Brasilien-Teil Südamerikas zugesprochen bekommen hatte), England, Frankreich und die Niederlande waren aber keinesfalls bereit, auf lockende Land- und Rohstoffgewinne zu verzichten.
Es gab viele Versuche der Eroberung – Simon Karstens spezialisiert sich auf die misslungenen. Nicht weniger als zwölf davon schildert er in zwölf spannenden Kapiteln, indem er sich geographisch die amerikanische Ostküste englang bewegt – von der Baffin-Insel westlich von Grönland bis zur Südspitze Südamerikas. Die Protagonisten sind immer andere, und manche (nicht alle) von ihnen hat man schlechtweg vergessen– das Schicksal der Erfolglosen.
Dabei will Simon Karstens, den die indigenen Völker mindestens so sehr interessieren wie die Europäer, keinesfalls die Geschichte umdrehen, wenn die Einheimischen bei ihm nicht nur die Opfer sind. Und die „Täter“? Als Historiker weiß er, dass Menschen in ihrem Denken in ihrer Zeit verhaftet waren (und sind). Und wenn selbst Thomas Morus, hoch geachteter Humanist der Renaissance, befand, dass man ein Recht auf die Eroberung habe und auch darauf, dieses mit Waffengewalt durchzusetzen (!), dann spiegelt sich darin der Geist der damaligen Zeit. Auf die Idee, dass man Menschen ihr Land nicht wegnehmen, ihre Lebensweise nicht ändern, ihnen nicht eine (katholische) Religion aufzwingen dürfe – darauf kam damals niemand. Dabei waren Europäer, die hierher kamen, nicht nur Abenteurer auf der Suche nach dem großen Reichtum, nicht nur bekehrungswütige Mönche, sondern es fanden sich darunter auch Menschen, die einfach ein besseres Leben suchten – wie jene „Wirtschaftsflüchtlinge“, deren legitimen Wunsch nach Chancen man heute nicht zugestehen will. Geschichte wiederholt sich.
Der Autor nimmt die Leser nun mit auf seine Reise in zwölf Stationen, durchgeführt von verschiedenen Nationen während des 16. und 17. Jahrhunderts, die in ganz verschiedene Landschaften gerieten und verschiedene Probleme vorfanden. Das erste Kapitel, das in der Arktis spielt, zeigt die Versuche des englischen Seefahrers Martin Frobisher, für Großbritannien eine Nordwestpassage zu finden, die als nördliche Route nach China und Indien führen würde. Weder das noch der Aufbau einer Kolonie glückte.
Es sind vielfach Geschichten einzelner Persönlichkeiten, die sich heraus kristallisieren, einige davon bekannt aus der Geschichte wie Sir Walter Raleigh, der zweimal erfolglos „koloniale Projekte“ unternahm, einmal in Nord-Carolina, einmal in Guyana, wo er am Orinoco „El Dorado“ zu finden gedachte. Als er mit leeren Händen nach England zurück kam, wandte sich Queen Elizabeth I. enttäuscht ab… Andere Helden sind etwa die Jesuiten, denen ihr „heiliges Experiment“ in Virginia nicht gelang, wo sie von Indigenen hingemetzelt wurden.
Man erfährt, dass neben Gold und Silber, Pelzen und Gewürzen, später noch Sklaven, auch die reichen Kabeljau-Gründe in Neufundland Menschen anzogen, denn mit diesen Fischen ernährte man in Europa ganze Armeen bis zum Dreißigjährigen Krieg – und bis man die Gründe leer gefischt hatte. Interessante Details allerorten – dass, als wäre man bei einem antiken Triumphzug in alten Rom, Frankreichs König Heinrich II. bei einem Einzug in Rouen Indigene aus Brasilien mit sich führte, um der einheimischen Bevölkerung zu zeigen, dass das, wovon sie sonst nur hörten, wirklich existierte…
Eine auch für die Habsburger interessante Geschichte ist jene, als Karl V. dem deutschen Handelshaus Welser (dem er viel schuldete) die Erlaubnis gab, sich in Venezuela fest zu setzen, eine Kolonie zu gründen und Geschäfte zu machen (was zweien der Hauptrepräsentanten der Firma das Leben kostete).
Die Eroberung der Neuen Welt war also keineswegs ein Triumphzug oder auch nur ein Spaziergang,, und die Indigenen spielten, wie der Autor immer wieder beweist, keinesfalls eine passive Nebenrolle dabei. Einige wichtige und beeindruckende Gestalten aus ihren Reihen erwachen da zum Leben. Dass es am Ende doch noch auf Verdrängung und beinahe Ausrottung hinaus lief… das ist allerdings nicht zu leugnen.
Renate Wagner