Charles Gounod – FAUST (Sommeroper Selzach, 12. August 2014)
Alle zwei Jahre verwandelt sich das schweizerische Selzach, ein kleiner Ort zwischen Solothurn und Biel, zur Festspielstadt. Das ehemalige Passionsspielhaus, dessen Historie – so erzählt es jedenfalls die lokale Fama – mit Richard Wagner und seinen Reisen in die Schweiz verknüpft ist, und das optisch an eine Scheune erinnert, verwandelt sich dann zur Opernbühne. Die Bewohner und Handwerker der Umgebung schneidern Kostüme, bauen und bemalen Kulissen oder unterstützen Technik und Beleuchtung; Mitglieder der lokalen Musikvereine werden zu Chorsängern und Orchestermusikern. Das „leading Team“ – Dirigent, Regisseur, Ausstattung – sind erfahrene Theaterprofis; die Orchestermusiker sind Profis, den Chor stellen engagierte (und gute) Laiensänger.
Was den Besuchern unter dem Titel „Sommeroper Selzach“ geboten wird, ist von leichter Sommerkost jedoch weit entfernt. Ganz im Gegenteil. Durchaus anspruchsvolle Produktionen erwarten das Publikum und mit den Jahren – zum zwölften Mal wird heuer Oper gespielt und die Aufführung am gestrigen 12. August fand exakt 25 Jahre nach der ersten Premiere hier statt – hat sich eine spezielle Dramaturgie entwickelt. Nach den überaus erfolgreichen „Hoffmanns Erzählungen“ vor zwei Jahren steht in diesem Jahr ein Meisterwerk der französischen Oper am Spielplan – „Faust“ von Charles Gounod, hier im Hinblick auf das „Spannungsfeld“ französisch-deutsch „Faust Margarete“ genannt. Gesungen wird in deutscher Sprache und man spielt eine spezielle „Selzacher Fassung“ mit Dialogen, die zumeist dem Goetheschen „Faust“ entnommen sind..
Thomas Dietrich, der Regisseur, hat wieder eine gleichermaßen bühnen- wie publikumswirksame Inszenierung geschaffen, die selbst einem verwöhnten Besucher ehrlichen Beifall entlockt. Der Gast aus Wien ist einmal mehr verwundert, was mit geringen finanziellen Mitteln, aber hoher Begeisterung aller Beteiligten möglich ist ! Die tatsächliche Qualität eines Opernregisseurs zeigt sich mir vor allem im Umgang mit dem Chor. Und hier beweist Thomas Dietrich einmal mehr sein Können – beinahe jede Choristin und jeder Chorist wird als individuelle Figur gezeichnet; nicht nur wegen der unterschiedlichen Kostümierung. Und auch die konträren Charaktere der verschiedenen Szenen sind differenziert gezeichnet. Die ewiggültige Thematik des Fauststoffes zeigt der Regisseur in einem Zeitbogen, der vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht. Diese Zeitreise hat der Ausstatter Oskar Fluri kongenial in starke Bilder umgesetzt: die verstaubte Studierstube im ersten Akt, Biedermeierromantik im Garten des dritten Aktes, psychodelischer Drogenrausch in der Walpurgisnacht. Am stärksten in Erinnerung bleibt der Soldatenchor – keine siegreiche Armee kehrt aus dem Krieg zurück, es sind an Körper und Seele zerbrochene Menschen.
Gesungen wird von allen Mitwirkenden mehr als ordentlich. Was von den Solisten, die durchwegs über auch internationale Opernerfahrung verfügen, erwartet werden kann, ist für die ChorsängerInnen, alles Laien, keineswegs selbstverständlich. Ihnen gebührt daher ein Sonderlob. Michael Gniffke ist ein Faust mit strahlenden Höhen, der vor allem in den höheren Lagen auch „französisch“ klingt. Seine Margarete wird von der jungen Deborah Leonetti stimmsicher und optisch überzeugend gesungen und gespielt. Diese Sängerin sollten Stimmliebhaber beobachten. Ein passend dämonisch und schmierig gleichzeitiger Mephisto ist Andreas Macco. Auch stimmlich lässt dieser Teufel keine Wünsche offen und glänzt nicht nur beim goldenen Kalb. Astrid-Frédérique Pfarrer ist eine charmante Marthe, Nikolaus Meer eine Luxusbesetzung für den Brandner. Siebel ist in dieser Inszenierung mit einem Tenor besetzt und Sören Richter lässt dabei aufhorchen; auch ihn sollten Opernfreunde im Auge behalten. Ob Michael Mrosek mit dem Valentin selbst glücklich ist, kann ich nicht beurteilen; für mich war er in einem durchwegs ausgewogenen Ensemble stimmlich ein Fremdkörper – zu italienisch klingt mir sein Gesangsstil.
Für die musikalische Umsetzung ist Bruno Leuschner verantwortlich, der Chor und Orchester ausgezeichnet einstudiert hat und den Abend umsichtig leitete. Der Jubel mit Getrampel und standing Ovations nach Ende des Abends war mehr als berechtigt.
Man darf gespannt sein, was Bruno Leuschner, Thomas Dietrich, Oskar Fluri und der Produktionsleiter René Gehri im Einvernehmen mit den Geldgebern für die nächste Saison planen.
Michael Koling