Barock-Fest „Winter in Schwetzingen“: „Marco Attilio Regolo“ von Alessandro Scarlatti (Vorstellung: 2. 2. 2012)
Attilios Gattin Fausta, von Sharleen Joynt gespielt, als Geisel des von Antonio Giovannini dargestellten Karthagers Amilcare (Foto: Klaus Fröhlich)
Das Theater Heidelberg, Veranstalter des Barock-Fests „Winter in Schwetzingen“, gelang mit der Ausgrabung der Oper „Marco Attilio Regolo“ von Alessandro Scarlatti eine kleine Opernsensation. Das Dramma per musica in drei Akten, das 1719 in Rom uraufgeführt wurde, entpuppte sich im schmucken Rokokotheater des Schlosses als musikalisches Meisterwerk, dessen Entdeckung für Barockfans mit Sicherheit eine Reise nach Schwetzingen wert war.
Die Handlung der mehr als dreistündigen Oper, deren Libretto von Matteo Noris stammt, in Kurzfassung: Zur Zeit des Ersten Punischen Krieges wird der römische Feldherr Marco Attilio Regolo von den Karthagern zu Friedensverhandlungen nach Rom gesandt, während seine Ehefrau Fausta und seine Tochter Emilia im Haus des karthagischen Herrschers Amilcare gefangen gehalten werden. Während dessen Abwesenheit verliebt sich Amilcare in seine Geisel Fausta und versucht, sich der aus politischen Gründen arrangierten Heirat mit Prinzesin Eraclea von Sizilien zu entziehen. Emilia wiederum verliebt sich in dieser Zeit in Santippo, der als Spartaner auf Seiten Karthagos steht. Als Attilio aus Rom zurückkehrt und erklärt, der Senat habe beschlossen, den Krieg fortzusetzen, lässt ihn Amilcare gefangen nehmen und befiehlt seine Ermordung. Attilio, der sich in Rom für eine Intensivierung des Kriegs und für die Entsendung neuer Truppen eingesetzt hat, ist bereit, für seinen Nachruhm in den Geschichtsbüchern zu sterben und sogar das Leben seiner Tochter zu opfern. – Die von Amilcare enttäuschte Eraclea gibt sich Santippo zu erkennen und beschließen, gemeinsam gegen den Tyrannen Karthagos vorzugehen. Der Spartaner befreit Attilio aus dem Gefängnis und lässt Amilcare seinen Tod melden. Dennoch verweigert der Römer ihm die Hand seiner Tochter und bleibt auch seiner Frau gegenüber misstrauisch. – Santippo wird immer mehr zum Drahtzieher der politischen Entwicklungen, stachelt Eracleas Rachepläne weiter an und rät Attilio zur Flucht, allerdings vergeblich. Fausta ist wegen der Trauer über den vermeintlichen Tod ihres Gatten dem Wahnsinn nahe. Als er leibhaftig vor ihr steht, erkennt sie ihn nicht. Santippo, der jede weitere Eskalation zu verhindern weiß, erhebt sich zum Richter über Amilcare, doch bittet Eraclea ihn zu verschonen. Schließlich sehen sich alle drei Paare, wie in Barockopern üblich, glücklich vereint in Frieden und Freiheit.
Regisseurin Eva-Maria Höckmayr verlegte die Handlung in die Neuzeit und inszenierte das Werk als psychologisches Kammerspiel, für das Nina von Essen ein zweistöckiges Bühnenbild schuf, dessen oberer Teil je nach Szene auf und ab schwebte, und Julia Rösler „Partykostüme“ entwarf. Dazu ein Zitat aus einem Gespräch der Regisseurin mit Operndirektor Heribert Germeshausen, das im Programmheft abgedruckt ist: „In der schizophrenen Verlogenheit Marco Attilios sehe ich Parallelen zur heutigen Politik, die beispielsweise behauptet ‹Wir kämpfen für den Frieden›, in Wahrheit aber Krieg für eigene, ganz anders gelagerte Interessen führt. Marco Attilio praktiziert eine Form von römischem Nationalstolz, wie man ihn heute von US-amerikanischen Politikern vom Schlage eines George Bush kennt.“
Wahrscheinlich hatte die Regisseurin aus diesem Grund die nicht sehr originelle Idee, Amilcare mit einer Pistole auszustatten, mit der er und seine Geiseln Russisches Roulette zu spielen hatten! Die Vorliebe von so vielen Regisseuren und Regisseurinnen für Pistolen und Revolver wird auf den Opernbühnen immer mehr zum Ärgernis. Dazu passend, dass Attilios Tochter das glückliche Ende mit einem Amoklauf zerstören sollte. Gut, dass diese Szene, die musikalisch auch keine Untermalung gehabt hätte, nicht mehr ausgespielt wurde!
Für die musikalische Qualität der Produktion sorgte das Philharmonische Orchester Heidelberg unter seinem Dirigenten Rubén Dubrovsky, der seine Begeisterung für das Werk auch im Rahmen der Einführung vor der Vorstellung dem Publikum kundtat. Das von ihm bestens eingestimmte Orchester wartete mit einem barocken Feuerwerk auf, das vom erstklassigen Sängerensemble immer wieder aufs Neue gezündet wurde. Allen voran der Countertenor Terry Wey in der Titelrolle, der mit seiner schmiegsamen, schönen Stimme seine Gefühlsskala brillant auszudrücken verstand. Ihm ebenbürtig die kanadische Koloratursopranistin Sharleen Joynt, die auch darstellerisch ihre schwierige Partie, die sie in einigen Szenen an einen Stuhl gefesselt, in anderen in einer Art Zwangsjacke zu singen hatte, blendend bewältigte. Die Sopranistin Annika Sophie Ritlewski als Tochter Emilia schaffte es, die zwischen Hass und Liebe schwankenden Gefühle einer jungen Frau stimmlich wie darstellerisch eloquent zu vermitteln. In der Rolle des Karthager Amilcare bot der italienische Countertenor Antonio Giovannini sowohl stimmlich wie vor allem darstellerisch eine überzeugende Leistung.
Mit einer kraftvollen, lyrischen Stimme wartete der österreichische Tenor Daniel Johannsen als Santippo aus Sparta auf, der mit seiner starken Bühnenpräsenz die Fäden im Stück geschickt zog. Die Sopranistin Hye-Sung Na konnte mit ihrer burschikosen Art und wandlungsfähigen Stimme recht gut die Rolle der Prinzessin Eraclea verkörpern, die sich zuerst als Mann verkleidet dem karthagischen Herrscher nähert, ehe er sie zum Schluss notgedrungen doch als seine künftige Ehefrau akzeptiert.
Das Publikum, von Musik und Gesang sichtlich begeistert, bejubelte am Ende der Vorstellung alle Protagonisten, den Dirigenten und das Orchester für ihre eindrucksvollen Leistungen minutenlang.
Udo Pacolt, Wien – München
PS: Die letzte Vorstellung dieser Produktion wird in Schwetzingen am 10. 2. 2012 gezeigt.