Der Adel tanzt, und der aufbegehrende Diener Gérard (Yoontaek Rhim) möchte bereits während des sorglosen Hoffestes die brennende Fackel in die Gesellschaft werfen. Foto: Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin/ Silke Winkler
Schwerin/Mecklenburgisches Staatstheater: „ANDREA CHÉNIER“ – 20.3.2019
Nach der Uraufführung 1896 am Teatro alla Scala in Milano trat die „große Oper“ „Andrea Chénier“ von Umberto Giordano, einem Hauptvertreter des Verismo, ihren Siegeszug an den großen Opernbühnen Europas und der Met an. Im Mittelpunkt steht die tragische Gestalt des Dichters Chénier, der 1794 in Paris während der Französischen Revolution mit 31 Jahren mit der Guillotine hingerichtet wurde. Das Libretto schrieb Luigi Illica, der später mehrfach für Giacomo Puccini arbeitete.
Jetzt wagte auch das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin mit einer, auf Theater und dortiges Publikum zugeschnitten Inszenierung von Roman Hovenbitzer in italienischer Sprache und mit deutschen Übertiteln diesen Schritt (Pr. 18.1.2019), und wie man auch bei einer Repertoire-Aufführung sehen konnte, mit großem Erfolg. Das Theater war sehr gut besucht – von einem sehr aufmerksamen Publikum aller Altersklassen, das am Schluss seiner Begeisterung Ausdruck verlieh. Da braucht man sich um die Zukunft der Oper und speziell auch dieses Hauses keine Sorgen zu machen.
Die Inszenierung wirkt konservativ, spannte aber dennoch, durchzogen von vielen Komponenten des (noch) modernen Regietheaters und der üblichen Bühnengestaltung trotz einiger Abwandlungen des Librettos und „Ergänzungen“, geschickt den Bogen vom Rokoko über die Zeit der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Es wird nicht schwarz-weiß gezeichnet, auch nicht bei Bühnenbild (Hermann Feuchter) und Kostümen, im Gegenteil, eher vom Weiß der Puderperücken und Reifröcke der adligen Festgesellschaft zum übermäßigen Rot der Kostüme (Roy Spahn), fast „erschlagend“, um wirkungsvoll die „rote“ Volksbewegung und das in Strömen geflossene Blut zu symbolisieren. Anhand eines persönlichen Schicksals wird die Revolution in ihren Anfängen in komprimierter Form in ihrer Zwiespältigkeit und Grausamkeit umrissen und nicht nur positiv als Befreiung geschildert.
Den Bühnenhintergrund bildet das fast schon „obligatorische“ Stahlgerüst, das europa- oder auch weltweit die neueren Operninszenierungen bestimmt, und hier zwecks Fortschreiten der Handlung mittels Drehbühne bewegt und zum „Aufhänger zahlreicher Plakate und Losungen wird. „Vorgeschaltet“ ist ein großer (Bilder-)Rahmen, der Schwerins Besuchern schon seit Jahren in kleinerer Form im Schlossgarten begegnet und vielleicht Pate gestanden hat. So wie er dort die Landschaft en nature partiell ins Bild holt, so wird auf der Bühne damit die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Situation gelenkt, zunächst auf das unbeirrt gefeierte Fest, dessen Teilnehmer dann „aus dem Rahmen fallen“, d. h. einzeln in die umwälzende Handlung der Revolution steigen und dem Publikum in der veränderten Situation näher kommen.
Zwielichtige Gestalten wie einer, der als Todbringender auf seinem roten Anzug ein aufgemaltes Skelett trägt und im entscheidenden Moment schicksalhaft eingreift, eine Art Hermaphrodit auf Gehhilfen, der evtl. die Zwiespältigkeit der Charaktere symbolisieren soll, jemand, der vor jedem Akt vor dem Vorhang, einen mit Ziehharmonika von Le musicien rouge (Raphael Käding) begleiteten revolutionären Gesang, wie die Marseillaise (die auch in der Partitur vorkommt) als aus dem Volk kommend und der Kunstform nicht mächtig, aber mit Herzblut anstimmt, Videoeffekte und Flugblätter, die mit dem Bild des originalen André Chénier von oben flattern, wirken wie Zugeständnisse an die üblichen, fast schon obligatorischen, Elemente gegenwärtiger Inszenierungen, wurden aber sinnentsprechend eingesetzt, so dass der positive Gesamteindruck bleibt.
Die „freistehende“ alte Badewanne soll offenbar die Lächerlichkeit eines durch die Revolution vom Diener zum Machthaber Avancierten zeigen, so dass Yoontaek Rhim als Gérard seine, mit Bravour, guter Stimme und ausgezeichneter Deklamation und zu Recht mit Bravos bedachte, große Arie im Zwiespalt zwischen Eifersucht, Machtanspruch und humaner Reue darin singen muss. Am Ende der Oper spart man sich den Aufbau des Schafotts. Die beiden Sympathieträger werden erwürgt, aber auch das hätte man sich und dem Publikum ersparen können. Es hätte genügt, die beiden Verurteilten, deren Begnadigung zu spät kommt, wie die anderen Gefangenen an den seitlichen Bühnenausgang oder in den Bühnenhintergrund – entsprechend gewalttätig – abzuführen.
Als Poet, der als Gérards Kontrahent in Liebesangelegenheit um die Ex-Adlige Maddalena, der Karen Leiber als jugendlich schöne Bühnenerscheinung gesanglich und darstellerisch Glaubwürdigkeit verlieh, in die Machtschraube der Revolution gerät, strahlte der georgische Tenor Zurab Zurabishvili als Titelheld stimmliche und menschliche Wärme aus. Als viel zu junge, „alte“ Madelon erschien Itziar Lesaka, die auch als La Contessa di Coign auftritt, mit hell-timbriertem Mezzosopran und eigenartiger Intonation, um ihre, der Revolution geopferten, Söhne in ihrem kurzen, modischen Röckchen, Stahlhelm und großem Mantel zu beklagen, unter dem dann mehrere Kindersoldaten hervorkriechen – ein Blick in ihre (oder die) Zukunft?
In weiteren Rollen ergänzten Bruno Vargas (Fouquier Tinville und Maestro di casa) – leider stimmlich sehr schwach -,Sebastian Kroggel (Roucher), Paul Kroeger (L’abbate, Incredibile), Cornelius Lewenberg und Olaf Meißner die Runde. Opernchor und Extrachor (Joseph Feigl, Friedemann Braun) verliehen den Volksszenen kraftvollen stimmlichen Ausdruck und verstärkt durch die Statisterie des Mecklenburgischen Staatstheaters optisch den massiven Eindruck der revolutionären (Volks-)Massen mit ihrem widersprüchlichen Verhalten in der Choreographie von Emil Roijer.
Die gesamte Aufführung wurde sehr vom Orchester, der Mecklenburgischen Staatskapelle, unter dem jungen Kapellmeister Gabriel Venzago getragen, der mit sehr gut gewähltem Tempo und lückenlosem, „flüssigem“ Musizieren die Grundlage für diese Aufführung legte. Er folgte nicht der gegenwärtigen Untugend überzogener Lautstärke, sondern hielt die innere dramatische Spannung durch gutes, differenziertes Musizieren. Er ließ den Sängern Luft zum Atmen und einem schönen Cellosolo die Entfaltung, so dass ein sehr positiver Gesamteindruck der Aufführung entstand, bei dem auch manch kleine Unebenheit und Unzulänglichkeit der Sänger, wie sie auch in Abhängigkeit von der Tagesform vorkommen können, kompensiert wurde.
Hier wurde einmal mehr deutlich, wie sehr der Dirigent das Orchester und damit die gesamte Aufführung beeinflussen, ja entscheiden kann. Ein Dirigent ist nun einmal auch der vielgerühmte „geistige Vater“ eines Orchesters. Gabriel Venzago ist seit 2018 Kapellmeister am Mecklenburgischen Staatstheater und dürfte nach seinem Debüt bei „Andrea Chenier“ zu großen Hoffnungen berechtigen.
Ingrid Gerk