Asmik Grigorian, Ausrine Stundyte. Foto: Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig
SALZBURG/Festspiele: „ELEKTRA“ NI am 6. und 21. August 2020
Elektra hochdramatisch oder nicht?
Die Zuschauer werden schon einige Minuten bevor der erste Takt in der monumentalen Felsenreitschule mit ihren noch von der letztjährigen „Salome“ geschlossenen Galerien losbricht, von dem der bereits am Pult stehende Franz Welser-Möst zu Recht meint, Strauss packe „den Zuhörer sofort an der Gurgel“, erstmal von einem Schwarm zirpender Grillen auf eine Art unergründliche Schwüle der kommenden Handlung eingestimmt. Damit nicht genug: Eine offenbar völlig verwirrte Frau stellt sich im schwarzen Negligé ans Mikrophon und offenbart, außer sich vor Rage, dass sie soeben ihren Gatten hat ermorden lassen und warum das rechtens war – es ist offenbar Klytämnestra… Etwas lang wird der Monolog dann doch.
Damit setzt der polnische Regisseur Krysztof Warlikowski bereits das erste Zeichen seines Regiekonzepts, und damit liegt er im Prinzip richtig, wie er in einem Gespräch mit dem Dramaturgen Christian Longchamp im interessanten Programmheft darstellt. Er versucht nämlich, in die Vorstellungswelt und Psyche der Frauen vorzudringen. Denn während die Männer zu ihren Taten – meist von den Göttern – gezwungen werden, sind die Frauen in „Elektra“ „viel freier, in gewisser Weise viel gefährdeter, und somit auch viel interessanter.“ Und diese Überzeugung zieht Warlikowski dann konsequent durch.
Obwohl wir zu Beginn etwas sehen, was sonst praktisch nie zu sehen ist. In einer innen dunkelroten langen Blackbox im linken Teil der Riesenbühne – diese damit dramaturgisch auch sinnvoll bespielend – erleben wir, was vor etwa zehn Jahren passierte: Gerade hat Ägisth Agamemnon mit dem Beil ermordet. Dessen Leiche liegt neben seinem Sessel, in dem später seine eigene sitzen wird. Auf Schwarz-Weiß Videos (Kamil Polak) ist zu sehen, wie die kleine Elektra langsam das Mord-Beil zu sich zieht, während sie leibhaftig im Heute und Jetzt auf einer langen Bank in der rechten Ecke eines Duschraumes sitzt, der den Charme der abgenutzten Duschräumlichkeiten eines heutigen Tennisplatzes ausstrahlt. Von einer alten Frau wird gerade ein weiteres Opfer für Klytämnestras Blutdurst geduscht, eine Frau mittleren Alters. Wenig später, nachdem sie von der alten Frau auf einem Serviertisch „aufbereitet“ worden ist, werden der Königin ihre Innereien zum blutigen Benetzen ihrer Hände vom alten Diener, Jens Larsen, aus einem einfachen Eimer gereicht, in erneuter Hoffnung auf durchgehenden Schlaf…
Das alles wirkt im Bühnenbild von Malgorzata Szczesniak wie ein interessantes dramaturgisches Ineinanderfließen von zwei Zeitebenen, was einerseits eine gewisse Spannung und Reflexion bringt, andererseits aber auch die Beweggründe der völlig fanatisch vor sich hinstarrenden Elektra für ihren einzig auf die Zukunft gerichteten Traum klarmacht, von Rachegelüsten besessen die Mutter endlich sterben zu sehen, für einen Vater, den sie eigentlich nie wirklich gekannt hat. Wie ein Phantom schreitet dieser dementsprechend nun blutüberströmt während ihres Auftritt-Monologs durch ein langes Wasserbecken und verlässt hinter ihr unbemerkt die Bühne. Hier plantschten zuvor völlig unerklärlich einige Kinder, während sich am Rand des Wasserbeckens die herausgeputzten Mägde tummelten. Die subtile Dramatik und Tragik der Mägde-Szene (Sonja Saric Aufseherin; Bonita Hyman Erste Magd; Katie Coventry Zweite Magd; Deniz Uzun Dritte Magd und Sinéad Campbell-Wallace Vierte Magd, alle stimmlich ansprechend) verpufft vollständig angesichts ihrer banalen Aktivitäten und der Schreie der Fünften Magd, Natalia Tanasii – besonders klangschön – bereits aus dem Off!
Warlikowski streut immer wieder solche Banal-Szenen oder -Elemente ein, die das Geschehen trotz einer weitgehend guten psychologischen Herausarbeitung der Frauenfiguren verflachen und unnötig von Substantiellem ablenken. Dazu gehören drei hölzerne Kinderpuppen, die immer um Klytämnestra herum aufgestellt werden und von denen eine bei beiden Aufführungen – wohl unfreiwillig – krachend umstürzte. Wer bis drei zählen kann, kommt leicht auf die Zahl ihrer nach Iphigenies grausamem Ableben noch verbliebenen Kinder. Spannend! Aber auch die immer wieder stoisch herumlaufenden sechs Dienerinnen im schwarzen Gewand mit weißer Schürze wirken störend und überflüssig. Bei Orests Erkennung auf dem Palasthof (also in der Dusche) treten drei von ihnen sogar mit einem riesigen Blumenstrauß mit dicken Sonnenblumen auf, um dem kommenden Herrscher zu huldigen, ganz wie auf einem deutschen Grünen-Parteitag dem Wahlsieger der Sonnenblumenstrauß überreicht wird. Schnell macht der alte Diener diesem Treiben ein Ende, und sie dackeln wieder ab. Warum müssen Elektra und Chrysothemis sich auch ständig eh nicht brennende Zigaretten anstecken und Elektra ein albernes Handtäschchen tragen, dessen sie sich irgendwann ohnehin überdrüssig entledigt?! All dies nimmt ihren jeweiligen Aussagen viel an Aussagekraft und Konzentration. Das hätte man sich sparen und einmal bei Romeo Castellucci bei seiner „Salome“ nachsehen können, wie man auch den Riesenraum der Felsenreitschule stringent und sinnhaft bespielen kann. Bei ihm machte jede noch so marginale Nebenszene und jedes noch so banal wirkende Inszenierungsdetail Sinn.
Sinnvoll schaudern macht hingegen das Ergebnis der Morde Orests an Klytämnestra und Ägisth, die gemeinsam mit dem restlichen engeren Hofstaat – also mit der Schleppträgerin und der Vertrauten, die beide in ihrer coolen Arroganz zuvor geschickt eingesetzt wurden, sowie der alten Frau – in der Blackbox tot auf dem Boden liegen, Klytämnestra nun auf dem Serviertisch im eleganten Abend-Outfit mit Hut. Hier zeigt sich ein letztes Mal Warlikowskis genaue Herausarbeitung der ambivalenten Rolle der Chrysothemis während des ganzen Stücks. Wird sie gewöhnlich eher stiefmütterlich und bis auf ihre zwei Szenen mit der Schwester abwesend behandelt, so zeigt sie hier auch eine durchaus kooperative Einstellung zum allerdings prinzipiell auch von ihr abgelehnten Leben im Palast. Sie wäscht nun ihre tote Mutter wie zuvor deren Blutopfer gewaschen wurden und kümmerte sich zu Lebzeiten immer wieder um sie, so bei ihrem Auf- und Abgang zum Dialog mit Elektra, der allerdings weit hinter dem zurückbleibt, was die Musik suggeriert. Das machte Harry Kupfer in seiner Wiener Inszenierung, die nun erfreulicherweise wieder zu sehen ist, ungleich besser.
Der Regisseur zeigt und definiert Chrysothemis sozusagen „zwischen den Fronten“ und wertet die Figur damit enorm auf, was in der exzellenten Sängerdarstellerin Asmik Grigorian, der Salzburger Salome der beiden Vorjahre, auch eine beeindruckende Entsprechung findet. Sie spielt die Rolle äußerst intensiv und emotional, was ihr Verhältnis zu Elektra und das Finale betrifft, in dem sie schließlich als einzige auf dem ganzen Chaos orientierungslos zurückbleibt. Schnell entblößt sie beim ersten Dialog mit der Schwester ihre poppige Jacke und zeigt mit einem knallroten Büstenhalter, was sie denkt: Einen Mann lieben und sei es ein Bauer (nichts gegen die Landwirte, ohne die es eh nicht geht!), und (ihm) Kinder gebären. Bei ihren Aktionen im Palast hingegen legt sie ein eher rational geschäftiges Verhalten an den Tag, durchaus auch die Untergebenen wissen lassend, wer hier nach Klytämnestra Herrin im Hause ist. Denn Elektra ist weit draußen, ja weg, sowohl räumlich wie familiär. Stimmlich ist die Grigorian auch in dieser immer wieder als „klein“ bezeichneten Rolle reiner Hörgenuss. Farbenreich entfaltet sich ihr auf jedem Ton klanggebender leuchtender Sopran, sich mühelos in die Höhe aufschwingend, aber auch in der Tiefe noch gut ansprechend, und das alles bei einer durchgängig guten Wortdeutlichkeit! Es ist Warlikowski zu danken, mit diesem Glücksfall an Besetzung die Rolle so gut nachvollziehbar aufgewertet und ihr ganz neue Facetten abgewonnen zu haben – ein großes Plus dieser Inszenierung!
Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte. Foto: Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig
Ihre Mutter Klytämnestra zeigt der Regissseur als zerbrechliche und völlig verunsicherte Frau, zweifellos von hoher Intelligenz und großer Persönlichkeit, aber gebrochen und angsterfüllt vor den Konsequenzen ihres verwerflichen Handels stehend und um die Zukunft fürchtend, was sich auch über ihre schlaflosen Nächte erstreckt. So kommt sie sogar zu Elektra, um Rat zu suchen. Der an sich immer sehr spannende Dialog zwischen beiden Frauen bleibt bei Warlikowski aber seltsam spannungslos, obwohl darstellerisch von beiden durchaus stark interpretiert. Aber es fehlt die physische Nähe, der Regisseur hält die Figuren zu weit auseinander, kommt hier mit dem großen Bühnenraum nicht zurecht, sodass dieser Dialog seine ganze Grausamkeit und die Steigerung bis zum finalen Todesspruch Elektras nicht wirklich entfalten kann, ja sich sogar eine gewisse Langeweile einstellt. Ebenso unspektakulär vollzieht sich Klytämnestras Rückzug in die Blackbox, von Chrysothemis begleitet. Aber das war wohl Teil des Plans, gerade diese alternde Frau introvertiert statt, wie gewohnt, extrovertiert zu zeigen – Teil von Warlikowskis Verständnis der Frauenpsyche in diesem Stück. Da ist also auch kein bösartiges Lachen zu hören… Stimmlich ist Tanja Ariane Baumgartner mit ihrem voluminösen und ausdrucksstarken Mezzo bei guter Diktion und in ihrem leuchtend roten Kostüm eine eindrucksvolle Klytämnestra.
Wie ich am Rande des Festspielbezirks hören konnte, war einige Zeit Asmik Grigorian aufgrund ihrer außergewöhnlichen Salome als Elektra dieser Produktion im Gespräch. Sie entschied sich aber letztlich dagegen. So kam die ebenfalls aus Litauen stammende Ausrine Stundyte zum Zuge, die ich 2010 in Lübeck schon als Gutrune in der „Götterdämmerung“ und letztes Jahr in Bologna als Salome gehört hatte. Sie entspricht wohl zweifellos dem Bild der jungen Frau bzw. des erwachsen gewordenen Mädchens, das Warlikowski verständlicherweise für seine Sicht der Rolle in diesem Konzept im Auge hatte. Allein, Stundyte ist keine Hochdramatische. Und wenn eine Rolle bei Strauss hochdramatisch ist, dann wohl die Elektra. Man denke nur an Birgit Nilsson, Gabriele Schnaut, Hildegard Behrens, die übrigens ein Vorbild für Ausrine Stundyte ist, Evelyn Herlitzius, et al. und zur Zeit die wohl stimmstärkste Elektra, Catherine Foster. Dass beides zusammen geht, ist auch in der Operngeschichte eher die Ausnahme, für die vor allem die damals ganz junge Anja Silja in den Sinn kommt.
In einem auch mit vollem Cover Page Portrait aufgemachten Interview in der Juli/August 2020 Ausgabe des großformatigen deutschen Hochglanz-Magazins „OPER!“ berichtet Stundyte, dass sie beim ersten Treffen mit Franz Welser-Möst diesem gesagt habe, „dass ich keine überschlagend große und dramatische Stimme habe.“ Aber nach der ersten Arbeitsprobe hätte sie sich überzeugt, dass man die Elektra nicht von Anfang bis zum Ende laut singen muss. Nun gut, das trifft auf alle hochdramatischen Partien, also Partien des schweren Fachs bei Wagner und Strauss zu. Selbst der Siegfried hat Ruhepausen während der berüchtigten Schmiedelieder. Aber wenn dann mal laut gesungen werden muss, und das geschieht bei der Elektra des Öfteren, dann sollte auch da gut und klangvoll gesungen und notengemäß auch gehalten werden. Und da konnte mich Stundyte an diesen beiden Abenden nicht überzeugen. Die dramatischen Spitzen klingen angestrengt und aufgesetzt, während die Stimme, wenn es zu dramatischerem Singen kommt, wie abgedeckt klingt. Im Vordergrund steht da Lautstärke ohne stimmliche Modellierung und Phrasierung. Wahrhaft schön gelingen ihr hingegen die lyrischen Linien der Wiedererkennungsszene mit Orest. Da scheint sie vokal in der Tat in ihrem Element zu sein und auch genau in ihrem Fach. Allerdings überrascht mich schon, dass sie im selben Interview auf die Frage, ob sie zu jung für die Elektra sei, dem Interviewer Kai Luehrs-Kaiser sagte „wenn ich für Salome, die ich schon gesungen habe, nicht zu jung bin, dann bin ich es auch nicht für Elektra.“ Es muss Gründe haben, dass viele Salome-Darstellerinnen nie die Elektra sangen und sogar umgekehrt. Auf jeden Fall wäre eine Verbesserung ihrer Diktion wünschenswert, denn schon bei ihrer Salome in Bologna war bei dramatischerem Singen kaum noch etwas zu verstehen, so auch nun in Salzburg. Darstellerisch bringt Ausrine Stundyte dafür alles für die Atridentochter mit, was hier vom Regisseur gefordert wird, und das ist nicht wenig. So wirkt sie als Figur, auch durch ihr ausnehmend starkes Minenspiel, sehr überzeugend und authentisch. Es bleibt die Frage letztlich: Ist Elektra eine Hochdramatische oder geht es auch ohne? Für mich ist die Antwort klar.
Dass Warlikowski von den Männern in „Elektra“ weniger hält als von den Frauen, wird frappierend an Orest deutlich, der mit einem bunten Norweger-Pullover – ähnlich wie sein Pfleger – erscheint und damit eher wie der nette Junge von nebenan wirkt als der unheimliche Unbekannte, der tief verkündet: „Ich und noch einer, wir haben einen Auftrag an die Frau“. Dass die Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak mit ihrem nordischen Outfit so weit neben der so bedeutsamen Figur liegt, ist also sicher nicht ihre Schuld, oder?! Derek Welton, in Bayreuth schon als „Rheingold“-Wotan und Klingsor unterwegs, singt den Orest mit seinem samtenen Bassbariton fast zu schön, dafür aber passend zum Pullover. Kurz, da ging ein enormes Potential an Fallhöhe in der Produktion verloren, der Regisseur schoss mit seiner Sicht der Männer doch über das Ziel hinaus. Dass Ägisth die bekannt schwache und hier gar ängstlich wirkende Figur gibt, ist seiner Bedeutung geschuldet. Michel Laurenz setzt das sowohl schauspielerisch wie stimmlich gut um. Tilmann Rönnebeck ist ein etwas blasser Pfleger des Orest, also passend, und Matthäus Schmidlechner fordert mit schlankem, aber kraftvollem Tenor ein Pferd aus dem Stall. Verity Wingate und Valeriia Savinskaia als Schleppträgerin (diese aber Fehlanzeige!) und Vertraute agieren professionell unterkühlt mit attraktivem Outfit. Die Damen und Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, einstudiert von Ernst Raffelsberger, versammeln sich kurz vor Schluss auf der Seitenempore und mischen kraftvoll im Finale mit. Felice Ross war für das kaum ins dramaturgische Gewicht fallende Licht zuständig.
Es war schon von Anfang an klar, dass die Wiener Philharmoniker nach dem musikalischen Erfolg mit „Salome“ in den beiden Jahren zuvor auch bei dieser zweiten Oper des Strauss’schen Dreigestirns der Hauptakteur werden würden, und so war es denn auch. Franz Welser-Möst fand das richtige Tempo und ließ alle Facetten der schillernden Partitur des Garmischer Meisters erklingen. Pathos war nicht gefragt, lieber die Suche nach der psychologischen Tiefe in der Musik und den Figuren, passend zum Konzept des Regisseurs. Bei den Sängern nahm er sich oft hörbar zurück, um dann umso kräftiger aufzutragen, wenn das Orchester allein gefragt war. Und die Philharmoniker folgten ihm willig, als hätten sie nie etwas anderes mit ihm gespielt.
Am Schluss sinkt Elektra, statt zu tanzen, in orgiastisch wirkenden Zuckungen auf dem Boden tot zusammen. Chrysothemis versucht sie noch aufzurecken. Orest verlässt hektisch und mit spastischen Anwandlungen den Ort seiner Tat. Die Erinnyen, symbolisiert durch einen immer rasender rotierenden Fliegenschwarm, der sich auf einem bei Klytämnestras Ermordung sofort plakativ auf die Galerien der Felsenreitschule geworfenen Blutfleck entwickelt – eine tolle Idee (!) – haben ihn schon gepackt. Mit ihm ist nicht mehr zu rechnen, er taumelt vom Wahnsinn befallen aus dem Saal. Umso tragischer gellen die beiden – dennoch schön gesungenen – verzweifelten Schreie von Asmik Grigorian als Chrysothemis nach ihm durch die Felsenreitschule. Ein letztes Mal hat eine Frau das Wort und steht vor der Katastrophe der Familie, die sie nun ganz allein richten muss – ein starker Schluss einer guten, aber nicht ganz geglückten „Elektra“-Inszenierung.
Klaus Billand