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Rudolf Buchbinder: DER LETZTE WALZER

08.05.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Rudolf Buchbinder
DER LETZTE WALZER
33 Geschichten über Beethoven, Diabelli und das Klavierspielen
192 Seiten, Amalthea Verlag, 2020

Wenn jemand wie Rudolf Buchbinder buchstäblich sein Leben „am Klavier“ verbracht hat, und wenn Ludwig van Beethoven mit seinen Klavierkonzerten und anderen Klavierwerken dabei sein ständiger Begleiter war – dann kann er etwas erzählen. Und tut es geradezu bewundernswert anhand der Diabelli-Variationen. Und erzählt nebenbei, dass er selbst bei seinen Kollegen den Spitznamen „Monsieur Diabelli“ hat… und dass er gerade dieses Stück wohl das „Leitmotiv meines Lebens“ bezeichnen will.

33 von diesen Variationen zu einem Walzer gibt es von Beethovens Hand, in 33 Kapiteln umkreist Buchbinder das Thema dieses Werks im besonderen, das Thema Beethoven im weiteren Sinn – ja, und vom Klavierspielen, seiner Profession, erzählt er auch eine Menge. Und immer wieder erregt er sich – so, wie es letztlich in einem anderen Buch Nikolaus Harnoncourt mit ähnlicher Verve getan hat – , wie in einem (angeblichen) Kulturland wie Österreich in den Schulen überhaupt kein Wert auf Musikunterricht gelegt wird. Was Menschen, die nicht in Musik ausgebildet und zu Musik angeregt werden, fehlt, man weiß es. Heute gilt Kunst nur „als gesellschaftliche Tapete“, moniert Buchbinder, nicht als echtes Anliegen…

Zu den Diabelli-Variationen also, ein bisschen Historisches: 1819, als „aktuelles“ Musikleben (Musik, die damals hier und heute für hier und heute geschrieben wurde) ein unabdingbarer Bestandteil der Stadt Wien war, schickte der Wiener Musikverleger Anton Diabelli einen schlichten, selbst komponierten Walzer an zahlreiche lebende Komponisten und bat sie um eine Variation. Er bekam sie von den meisten. Beethoven erkundigte sich nach dem Honorar, und als Diabelli ihm die wohl höchste Summe von allen zugestand (die Beethoven in seinem Selbstbewusstsein auch verdiente, wie er sicher war), schickte er Diabelli nach vier Jahren nicht eine Variation, sondern – 33 davon.

Ein Wunderwerk der Klavierkunst, ein Wunderwerk der technischen und emotionalen „Variation“ – es gäbe, schreibt Buchbinder, „keinen Seelenzustand, den er hier nicht beschreibt“. Zudem sind die 1126 Takte die größte zusammenhängende Komposition Beethovens. Und Buchbinders Ergriffenheit, als er im Bonner Beethoven-Haus das Original in (sorglich behandschuhten) Händen halten durfte, war enorm… 42 Notenblätter, 81 beschriebene Seiten, optisch ein Chaos, inhaltlich eine Welt für sich.

Was kann man nicht alles rundherum erzählen: Von Diabelli, der ein Meister der Publicity war, ebenso des Marketing, weil er die Variationen der anderen Komponisten gleichfalls herausgab, wobei sich an diesem Sammelband namens „Vaterländischer Künstlerverein“ (laut Buchbinder eine „Best of Playlist“ der 1820er Jahre) auch vieles beweisen lässt – das sich andeutende Virtuosentalent des jungen Franz Liszt, wie Hummel das Thema bis an die Grenzen des damals Möglichen führte, wie Franz Xaver Wolfgang Mozart (der nie mehr sein konnte als „der Sohn“) eine sehr anständige Variation lieferte, jene von Schubert hingegen schon mit tiefer Sehnsucht dessen eigenes Genie ahnen ließ, und vieles mehr. Diabelli hatte, indem er die Musiker der Zeit hier zu einem Projekt zusammen fand, einen Seismographen der Wiener Muisklandschaft erstellt. Und – im Vergleich erweist sich Beethovens singuläre Größe.

Buchbinder greift einzelne Variationen heraus, berichtet von den Interpretationen, die sie erfahren haben, gibt seine eigenen dazu – die sechste mit ihrem spröden Ton, die 22, mit ihrem Bezug zu Mozart, die 24. mit Bezug zu Bach, schließlich die letzte, die „sehnsüchtig“ auf die voran gegangenen Variationen zurück zu blicken scheint…

Erzählt wird über das unmittelbare Werk hinaus so vieles, von Carl Czerny, dem zu Unrecht Unterschätzten (weil alle Klavierschüler sich einmal durch seine Etüden plagen mussten…), der Beethoven besser kannte als viele andere. Von Hans von Bülow etwa (von dem man mehr wissen sollte, als dass er seine Frau an Richard Wagner verloren hat), der als Erster überhaupt, das war nach Beethovens Tod, die Diabelli-Variationen zur Aufführung brachte. Von der Rezeption des Werks, das vielen als „unspielbar“ galt und „nur möglich, weil Beethoven taub war“.

Auch von Beethovens Frauen ist die Rede, von seiner berühmten „Locke“, seiner finanziellen Situation, seinen Wutausbrüchen (liebevoll „Raptus“ genannt), von seiner Begeisterung für Mozart. Buchbinders lebenslange Beschäftigung mit Beethoven schlägt sich in ungeheurem Wissen nieder – mit Liebe und Respekt wiedergegeben.

Ja, und Gegenwärtiges spielt auch herein: Kinofan Buchbinder stöbert Beethoven in Filmmusiken auf (sogar der großartigste aller „Hongkong-Klassiker“, Ang Lees „Crouching Tiger, Hidden Dragon“, bietet Beethoven-Anklänge in der „Oscar“-gekrönten Filmmusik von Tam Dun), Jazz-Fan Buchbinder findet den Komponisten ehrenvoll bei den großen Jazz-Kollegen, von den Pop-Variationen ganz abgesehen. Und der Autor fragt auch, was die jeweiligen Beethoven-Jubiläen je für Beethoven gebracht haben, außer dass man ihn als Popstar oder Superstar bezeichnet hätte…

Da sich für Buchbinder der Blick in die Vergangenheit immer mit der Gegenwart verbinden muss, hat er übrigens ein Projekt „Diabelli 2020“ initiiert – und so gut wie alle angefragten Komponisten, die aus aller Welt stammten, waren nur zu gern bereit, sich der Herausforderung zu stellen, ob Tan Dun und Brett Dean, Toshio Hosokawa und Johannes Maria Staud, Christian Jost und Rodion Shchedrin und viele mehr. Hier kann Buchbinder Begegnungen schildern, die von Beethoven in die Gegenwart führen. Und das Ergebnis liegt auch vor – eine Verbeugung heutiger Komponisten vor dem unerreichbaren Genie.

Will man echten Musikfreunden ein Buch schenken – Buchbinder hat es hier geschrieben.

Renate Wagner

 

 

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