Rouven Pons
ERZHERZOG STEPHAN (1817–1867):
Biografie eines Habsburgers im entstehenden Medienzeitalter
662 Seiten, Verlag Böhlau, 2022
Dass die Familie Habsburg personell dermaßen „ausuferte“, sodass der heutige Familienchef Hunderte Verwandte hat, lag nicht an Maria Theresia und ihren sagenhaften 16 Kindern. Für die enorme Ausbreitung der Familie hatte (abgesehen geringfügig vom Modena-Zweig) allein ihr Sohn Leopold gesorgt, vielmehr seine fruchtbare Gattin Maria Ludovica, die spanische Bourbonin, die ebenfalls 16 Nachkommen zur Welt brachte, 12 Söhne und vier Töchter. Zehn Söhne überlebten, davon sorgten sieben für Familienzweige (darunter einer, Johann, morganatisch).
Von den vielen Brüdern des Kaiser Franz II. / I blieben allerdings nur Erzherzog Johann (der so viel für die Wirtschaft der Steiermark leistete) und Erzherzog Karl (der Napoleons Truppen immerhin einmal, wenn auch folgenlos, besiegte) im Bewusstsein der Nachwelt. Die anderen Brüder hatten durchaus ihre Aufgaben, nicht nur „abgeschoben“ in kirchliche Ränge oder zum Militär, sondern auch auf wichtige Außenposten geschickt: Ferdinand in die Toskana, Johann erst nach Tirol, dann in die Steiermark, Joseph nach Ungarn. Das war dann der „ungarische Zweig“ der Familie, der in der deutschsprachigen Öffentlichkeit weniger populär wurde, obwohl sie für Ungarn sehr wichtig waren. Das ist der familiäre Hintergrund des Mannes, von dem die vorliegende Biographie handelt.
Erzherzog Stefan war der erste Sohn von Erzherzog Joseph, er stammte aus dessen zweiter Ehe, war der letzte Palatin von Ungarn und lange Zeit der hoch geschätzte Herr der Grafschaft Holzappel auf Schloss Schaumburg an der Lahn. In diesen Regionen erinnert man sich sehr wohl an ihn, während er sonst in der Überfülle der Habsburger in Vergessenheit geraten ist und bis jetzt auch keine moderne Biographie erfahren hat.
Das holt Rouven Pons, seines Zeichens Leiter des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, in einem wahrlich voluminösen Werk (600 Seiten Text plus Anhang) nach. Bevor er mit selten gekannter Ausführlichkeit Stephans Leben von der Wiege bis zur Bahre schildert, gibt es einige grundsätzliche Überlegungen, die teils selbstverständlich sind – dass es die „objektive“ Biographie eines Menschen natürlich nicht geben kann. Der Biograph wählt die Gestaltung eines vorliegenden Lebens nach seinen eigenen (ideologischen) Überzeugungen – so wird Erzherzog Stephan rund um die Revolution von 1848 von ungarischen Quellen ganz anders beurteilt als vom Wiener Hof.
Tragischerweise ist es ihm in diesem zentralen Ereignis seines Lebens (das danach regelrecht auseinander gebrochen und in ein neues Leben übergegangen ist) gelungen, sich zwischen alle Stühle zu setzen und bei beiden Parteien verdächtig und in negativem Licht zu erscheienen, obwohl er zweifellos nur das Beste wollte. Aber Loyalität beiden Seiten gegenüber war einfach nicht möglich…
Um nun die Persönlichkeit von Erzherzog Stephan in einer wissenschaftlichen Biographie möglichst umfassend zu beleuchten, greift der Autor nicht nur auf die Sekundärliteratur zurück, die in vielen Fällen ein glorifiziertes Bild dieses Habsburgers überliefert hat. (Dafür sorgte bald nach seinem Tod sein langjähriger Erzieher und Adjutant, der Freiherr von Anders, mit einer huldigenden Lebensschilderung.) Dennoch ist Stephan in der Folge weitgehend in Vergessenheit geraten.
Dabei war er zu seinen Lebzeiten überdurchschnittlich populär, wie Rouven Pons – gemäß dem Untertitel seines Werks: Biografie eines Habsburgers im entstehenden Medienzeitalter – beweisen kann. Die digitalisierten Zeitungen der Österreichischen Nationalbibliothek treten den Beweis an, dass er zu den meist genannten Familienmitgliedern (zumindest bis 1848) zählte. Das ist nun ein Teil des Materials, auf das sich der Autor stützt, der auch Akten der Monarchie herangezogen hat. Vor allem aber die Briefe von und an Stephan, die offensichtlich reichlich vorhanden sind, und jede mögliche Erwähnung seiner Person in den Aufzeichnungen von Zeitgenossen. Das ergibt das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdbild, das dem Autor wichtig ist, zumal er eine so gründliche Recherche für die Basis jeder Biographie hält.
Bei dieser Gelegenheit holt er bei seinen einführenden Betrachtungen auch gleich zum Kollegen-Bashing aus – nichts, was zuletzt an Habsburger-Biographien erschienen ist, scheint ihm ausreichend, weder in gründlicher Befragung der Quellen noch in richtiger Fragestellung. Und es sind prominente, geschätzte Kollegen, die er da tadelt (von der Habsburger-Belletristik, die sich als Sachbücher ausgeben, ganz zu schweigen).
Nun, Oberflächlichkeit kann man Rouven Pons in seiner über die Maßen detailreichen Schilderung nicht nachsagen, die Privates ebenso hinterfragt wie Politisches. Dabei gerät der Autor nicht in den Verdacht, das Objekt (bzw. Subjekt) seiner Biographie allzu sehr zu lieben – er geht durchaus kritisch mit ihm um, nennt ihn als Briefschreiber exaltiert, oft affektiert und ortet ein hohes Maß an Selbstinszenierung an diesem Mann, mit dem es das Schicksal wohl erst in der zweiten Hälfte seines Lebens einigermaßen gut gemeint hat…
Sein „dramatischer Eintritt ins Leben“, wie Pons es nennt, hat mit der doppelten Ehetragödie seines Vaters Erzherzog Joseph zu tun. Glücklich verheiratet mit einer russischen Großfürstin, starb diese 1801 nach der Geburt einer tot geborenen Tochter. Erst 14 Jahre später entschloß sich Joseph zu einer zweiten Ehe. Auf Schloss Schaumburg, das die Braut als Mitgift mitbrachte und das später im Leben ihres Sohnes Stephan eine so essentielle Rolle spielen sollte, heiratete er Prinzessin Hermine von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym.
Und die Tragödie wiederholte sich – bei der Geburt der Zwillinge Hermine Amalie Marie und Stephan am 14. September 1817 in Ofen (ein Teil von Budapest) starb die Mutter. Diesmal heiratete Joseph um der Kinder willen schnell wieder – Maria Dorothea von Württemberg erzog die Stiefkinder und gebar Joseph fünf Kinder, von denen ein Sohn und zwei Töchter überlebten. Eine, Elisabeth, heiratete zweimal in die Habsburgische Familie zurück, die andere, Henriette, wurde Gattin des belgischen Königs Leopold II und Mutter jener Prinzessin Stephanie, die später mit dem Kronprinzen Rudolf verheiratet wurde. Stephan hat mit vielen seiner Verwandten (Cousins und Cousinen waren zahlreich) lebhaften Briefverkehr unterhalten.
Seine Karriere war keine militärische, wie bei den Habsburgern so oft, sondern er wurde als Jurist mit Verwaltungsaufgaben betraut, erst 1843 bis 1847 als Statthalter in Böhmen. In diese Zeit fielen die seltsamen Bemühungen, ihn mit der russischen Großfürstin Olga zu verheiraten (einer Nichte der ersten Frau seines Vaters). Undurchschaubar ist sowohl seine zurückhaltende Position zu dieser Ehe, die glanzvoller nicht hätte sein können – weswegen sie vermutlich von Metternich vereitelt wurde, der nicht wollte, dass so viel Glanz auf eine Nebenlinie des Hauses fiel…? Stephan blieb sein Leben lang unverheiratet, was einer Mitwelt immer verdächtig vorkam.
Am 13. Jänner 1847 starb sein Vater Joseph, der die äußerst wichtige Stellung eines Palatins von Ungarn inne gehabt hatte. Diese Palatine, früher aus den ungarischen Fürstengeschlechtern wie Esterhazy oder Palffy bestellt, waren die obersten Herrscher des Landes, nur dem Kaiser untertan. Seit Erzherzog Alexander, einem früh verstorbenen Bruder von Kaiser Franz, und dann Joseph war die Stellung mit Habsburgischen Familienmitgliedern besetzt. Der nunmehrige Kaiser Ferdinand betraute Stephan mit dem heiklen Amt, das die wohl unruhigsten Bürger des Habsburger Reiches betraf, die immer weder versuchten, den Palatinen die ungarische Krone anzubieten, um sich von Wien abzukoppeln…
Als „Gipfelpunkt und Ende der Karriere“ betrachtet Pons ganz richtig das kurze ungarische Abenteuer, das mit so vielen positiven und negativen Emotionen verbunden war, wobei bei bestem Willen kein Weg zwischen den magyarischen Freiheitsbestrebungen und dem Beharrungsstreben des Wiener Hofes durch führte. Stephan legte die Funktion des Palatins zurück und verließ das Land heimlich und fluchtartig, war in Wien (wo Erzherzogin Sophie als Ungarn-Hasserin mächtig war) unerwünscht und zog sich zur Zufriedenheit aller in das deutsche Schloß seiner Mutter zurück.
Als wissenschaftlich interessierter Sammler von Mineralien, als Besitzer einer eindrucksvollen Bibliothek, als Schlossherr und Wohltäter in Schaumburg, in lebhaftem Briefverkehr mit Familie und Wissenschaftlern, die ihn auch oft besuchten, lebte er hier bis zu seinem Tod.
Dem „privaten“ Erzherzog Stephan kommt man im letzten tragischen Kapitel noch einmal nahe. Offenbar war er, wie seine früh verstorbene Schwester (sie wurde nur 25 Jahre alt) zeitlebens von Krankheitsanfällen gequält. Bilder zeigen ihn vorwiegend „spindeldürr“ und ausgemergelt. Im Alter suchte er oft Linderung in Kurorten. Am 19. Februar 1867 ist er, ein halbes Jahr vor seinem 50. Geburtstag, im französischen Menton an einer schweren Lungenkrankheit gestorben.
Mag der Autor Stephans Leistungen auch nicht so hoch einschätzen wie andere Autoren, so beweist seine umfangreiche Biographie zumindest, dass dieser Mann es wert war, sich mit ihm auseinander zu setzen. Bedenkt man, wie viele wahrlich nutzlose Mitglieder das Haus Habsburg hatte, zählte er zweifellos zu den intelligenten und charakterlich besten der Familie.
Renate Wagner