Ralf-Olivier Schwarz:
JACQUES OFFENBACH
Ein europäisches Porträt
320 Seiten, Böhlau Verlag, 2019
Vor 200 Jahren als Jakob Offenbach, ein armer Judenjunge, am 20. Juni 1819 in Köln geboren, mit nur 61 Jahren von Krankheit ausgezehrt als Jacques Offenbach, weltberühmt, am 5. Oktober 1880 in Paris gestorben. „Hoffmanns Erzählungen“, „Orpheus in der Unterwelt“, „Die schöne Helena“, „Pariser Leben“ … und? Was ist noch geblieben von über hundert Bühnenwerken? Von jeder Menge konzertanter Musik? Von einem Leben, das sich wie ein Roman liest?
Man weiß eindeutig zu wenig über Jacques Offenbach. Die neue Biographie von Ralf-Olivier Schwarz, Lehrbeauftragter in Frankfurt, ist tatsächlich das einzig aktuelle Buch zum Anlaß des 200. Geburtstag, das die Lebensgeschichte von Offenbach nachzeichnet. Hier wird ein Leben als Ganzes betrachtet, eingebettet in seine Zeit, in seine Umwelt und so, wie es sich dank eines persönlichen überragenden Talents (und anderer Eigenschaften wie Fleiß) entfaltet hat. Stellenweise liest es sich wie ein Roman. Stellenweise auch wie hektische Auflistung von Werken, die ein Arbeitsbesessener in schier unglaublicher Menge „herausgestoßen“ hat. Dazwischen blinzelt der Mensch uns an, und der ist zutiefst sympathisch.
Wo andere Biographien kurz zusammenfassen, hier bekommt man es genau geboten – und kann seine Schlüsse ziehen. Dass ein musikalisches Supertalent in einer hoch musikalischen Familie, bei liebenden Eltern, im Kreis von begabten Geschwistern so glücklich aufgehoben war, dass Familienleben (er heiratete 25jährig und blieb mit seiner Frau unerschütterlich zusammen) für ihn eine lebenslange Konstante war, das erdet einen Mann, der sich in den wilden Trubel der „Unterhaltungsbranche“ stürzte und dort weder menschlich noch künstlerisch abstürzte. Wenn man weiß, wie besessen er von dem Cello war (schon in Köln mit dem Ruf eines „Wunderkinds“), dann wird man auch nicht „Kinderarbeit“ rufen, wenn er und zwei Geschwister loszogen, um als Trio öffentlich zu musizieren und im Elternhaus etwas beizusteuern…
Und man muss auch den jüdischen Hintergrund kennen, mit der großartigen Prägung der jüdischen Vorstellungswelt, dass die Kinder immer etwas „Besseres“ werden sollten – wie sonst würde ein armer Kantor in Köln zwei Söhne nach Paris zur musikalischen Ausbildung schicken, um ihnen diese Chance zu geben? Jakob, der im November 1833 mit 14 Jahren nach Paris kam, um – was er damals noch nicht wusste – Frankreich zu seiner Heimat zu machen, hat die Chance genützt, obzwar es ein harter und vor allem arbeitsreicher Weg war. Bruder Jules, auch begabt, der scheinbar dieselben Voraussetzung mitbrachte, machte keine Karriere…
Es zählt zu den Qualitäten dieses Buchs, dass der Autor ungemein farbig die Welten schildert, die Offenbach vorfand, in denen er sich bewegte, die er sich zueigen machte. Das Paris der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts – ein Unterhaltungstempel ohnegleichen. Da konnte ein Musiker Arbeit finden – zumal, wenn er, wie der junge Offenbach, nennen wir ihn also Jacques, ein absoluter Virtuose auf dem Cello war. Er muss ähnlich „teuflisch“-faszinierende Wirkung erzielt haben wie Paganini auf der Geige oder Zeitgenosse Liszt auf dem Klavier. Die Musikwissenschaft weiß, dass längst nicht erforscht ist, wie viel Musik Offenbach für das Cello schrieb. Wer weiß, welch andere Karriere er gemacht hätte, wäre da nicht der Lockruf des Theaters gewesen? Immerhin führte ihn das Cello gastierend 1844 bis an den Hof von Queen Victoria…!
Offenbach war 22, als er sich 1841 in die 15jährige Hermine verliebte, spanischer Abstammung, Stieftochter eines Briten, die mit ihrer Familie in Paris lebte. Erstaunlich bleibt, mit welcher Leichtigkeit Offenbach, der in einem frommen jüdischen Haushalt aufgewachsen war, auf Anforderung ihrer Familie offenbar zum Katholizismus konvertierte, um sie heiraten zu dürfen. Retrospektiv kann man sagen, dass er in Hermine, die er 1844 heiratete (und mit der er vier Töchter und einen Sohn hatte), wohl die Frau erahnte, die die ideale „Madame Offenbach“ werden würde – mit genügend Verständnis für seine Ausritte in Richtung Frauen und Glücksspiel. Sein Familienleben hat er nie gefährdet, zu jedem Musikstück, das er komponierte, erst die Meinung der Gattin eingeholt…
Karriere machen in Paris: Der Autor selbst gibt zu, dass das Leben des jungen Offenbach zu turbulent war, um es im Detail nachzuvollziehen (auch, weil es von der Unzahl der damals regen Etablissements natürlich keine Unterlagen mehr gibt). Tatsache ist, dass ihm das durchaus aktive Konzertleben als sehr bekannter Cellist nicht reichte. Mit dem „Zweiten Kaiserreich“ von Napoleon III. (ab 1852) explodierte Paris geradezu, nicht nur baulich, sondern in allen Künsten. Als Offenbach begann, kleine, zuerst nur einaktige Musikkomödien zu schreiben (was durchaus in der Tendenz der Zeit lag), begann er seine Karriere als „Direktor“: Das Théâtre des Bouffes-Parisiens wurde ab 1855 die Welt, in der er – wie es vielfach interpretiert wurde – „die Operette erfand“. Es war das Jahr der Weltausstellung in Paris – und für den Komponisten / Direktor begann es mit sensationellen Erfolgen. Er war der Meister der überbordenden Heiterkeit, Frechheit, Frische, die das Publikum wollte und genoß.
Die Biographie von Ralf-Olivier Schwarz bezieht ihre Lebendigkeit von Anfang an aus einem hohen Maß von Originaldokumenten, die er zitierend (und optisch durch Einzug abgesetzt) einfügt. Erinnerungen von Zeitgenossen, darunter auch einer Offenbach-Schwester, die hautnah ans Familienleben kommt, authentische Berichte, die den Menschen und die Zeit lebendig machen. In der Folge gibt es auch noch Kritiken zu den Werken, weiters Kurzinhalte jener wichtigeren Stücke, die behandelt werden – beileibe nicht alle von den über 100 Werken, die bis zu Offenbachs Tod entstehen, witzige Satiren, die er mit Hilfe des Librettisten Ludovic Halevy geradezu im Dutzend billiger produzierte. Dabei griff Offenbach (ein Brief-Zitat zeigt es) ziemlich genau in die Textvorlagen ein und äußerte seine Wünsche. Die Leichtigkeit und Schnelligkeit seines Arbeitens waren beispiellos, wie schon die Mitwelt immer wieder feststellte, desgleichen sein nie endender musikalischer Ideenreichtum. Die Übersicht ist ab da schwer zu behalten, aber der Autor führt unerschütterlich chronologisch durch Offenbachs Leben.
Nach zahlreichen Einaktern kam mit „Orpheus in der Unterwelt“ 1858 das erste mehraktige Werk Offenbachs auf die Bühne. „Die schöne Helena“ (1864) sollte in diesem Genre folgen, „Blaubart“ (1866), „Pariser Leben“ (1866) „Die Großherzogin von Gerolstein“ (1867) gleichfalls abendfüllend. Es ist die große Zeit der politischen Satire und der prachtvollen Musik – und Offenbach kreierte die Rollen von großen, selbständigen Frauen, was in dieser Welt nicht unbedingt üblich war.
Hier wird nun auch jene Bedeutung klar gemacht, die Wien ab Ende der fünfziger Jahre für Offenbach hatte: Johann Nestroy und Carl Treumann bearbeiteten seine kleinen Stücke mit fulminantem Erfolg, aber die Offenbach-Verrücktheit der Wiener ließ auch nach Nestroys Tod nicht nach, wo er es dann 1864 dann sogar an der Hofoper zu der Uraufführung seiner romantischen Oper „Die Rheinnixen“ brachte. Damit stach er Richard Wagner aus, dessen „Tristan“ man nicht spielte… (Ein Extra-Kapitel widmet der Autor der gegenseitigen Abneigung der beiden Künstler, Wagner antisemitisch, Offenbach spöttisch in Bezug auf „Zukunftsmusik“.) Die Musik des Werks, das an seinem Libretto scheiterte, soll so berauschend sein, dass die Musikwelt von einen „geborenen konzertanten Aufführung“ spricht – vielen Häusern ins Stammbuch geschrieben. Wie es aber im Leben immer zu Verschiebungen kommt – so, wie Wien von Offenbach erobert wurde, musste er später mit ansehen, wie Johann Strauß, auch mit seinen Operetten, Paris in Besitz nahm.
Wie jeder Mensch war Offenbach ein Sohn seiner Zeit, und wenngleich „dieser Ausländer“, wie es in dem amtlichen Gutachten zu seiner Einbürgerung 1860 heißt, unendlich populär war – schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg lief dann alles nicht mehr zum Besten. Tatsächlich gab Offenbach seine Pariser Direktion auf und verlegte einen Teil seiner Arbeit in den deutschen Kurort Ems. Diese Badeorte waren nicht zuletzt ihrer Casinos wegen so beliebt, und Augenzeugen schilderten, wie Offenbach an der Kasse seiner Vorstellung die abendlichen Einnahmen herausnahm und sie noch vor Aufführungssende im Casino verspielt hatte… Seine Frau muss eine Engelsgeduld gehabt haben, daheim in Paris, auch wissend, dass Offenbach auf Reisen oft in Damengesellschaft war (die Sängerin Zulma Bouffar spielte da keine geringe Rolle). Doch der Fall liegt ähnlich wie bei Nestroy – Geld- und Frauengeschichten ungeachtet, über ihre Gattinnen ließen sie nichts kommen, begegneten ihnen mit aller Zuneigung und allem Respekt.
Schon ab 1870 war Offenbach gesundheitlich angeschlagen. Und das letzte Jahrzehnt seines Lebens wirkt wie ein Trauermarsch – eingeläutet vom Deutsch-Französischen Krieg in diesem Jahr. Auf einmal war Offenbach der Feind, für die Franzosen der „Deutsche“, den sie sogar als subversiven Landesverräter betrachteten und nun mit Beschimpfungen überschütteten, für die Deutschen der Jude und der Verräter ohnedies, zerrieben zwischen zwei Vaterländern, denen er beiden verbunden war (auch nach dem Tod der Eltern lebten noch Geschwister in Köln). Nun schlug der Antisemitismus voll zu, Offenbachs von Natur aus prominente Nase eignete sich perfekt, zur perfiden Juden-Karikatur übersteigert zu werden. Tatsächlich erlebte er Jahre unglaublicher Hetzjagd auf seine Person. Jahre, in denen er sich nicht unterkriegen ließ, weiter arbeitete, in denen er ein weiteres Theater übernahm (von 1873 bis 1875 das Théâtre de la Gaîté), sogar todkrank (aus finanziellen Gründen) noch eine dreimonatige Amerika-Tournee unternahm.
Und der am Ende nur noch eines wünschte: Die Uraufführung seiner großen Oper „Hoffmanns Erzählungen“ zu erleben. Es ist ihm nicht gelungen. Er starb am 5. Oktober 1880 nach mehrstündigem Todeskampf im Beisein seiner Frau und seiner fünf Kinder. „Hoffmanns Erzählungen“ erlebte am 10. Februar 1881 seine Uraufführung in der Opéra-Comique in Paris, und es scheint, als ob all die Düsternis seiner letzten Lebensepoche in diesem Werk enthalten sei – das sich glanzvoll zu seinem größten Erfolg erhob. Nicht der Erfolg eines Franzosen, nicht eines Deutschen, nicht eines Juden, wie der Autor dieser Biographie hofft. Sondern eines Europäers. Mit Hilfe dieses Buches ist man Jacques Offenbach so intensiv und genau begegnet, dass man ihn fast zu kennen glaubt…
Renate Wagner