Philipp Reichel-Neuwirth:
HERRSCHAFT UND PROTEST IN WIENER SAGEN:
WAHRZEICHEN UND IHRE RELIGIONSPOLITISCHE PROPAGANDAFUNKTION
152 Seiten, Verlag Böhlau, 2021
Sagen gehen wie Märchen auf die „Oral History“ eines Volkes zurück, so lautet wenigstens die allgemeine Ansicht. Erst Wissenschaftler und Schriftsteller wie die Brüder Grimm oder Hauff haben sie (die Märchen nämlich) später gesammelt und zu Literatur gemacht, ebenso ging es den Sammlungen von „Volkssagen“.
Ganz anderer Meinung ist der Wiener Historiker Philipp Reichel-Neuwirth, der nun in einem schmalen, taschenbuch-formatigen, aber reich bebilderten Bändchen eine alternative Theorie aufstellt. Wenn er „Herrschaft und Protest in Wiener Sagen“ aufspüren will, geht es ihm um „Wahrzeichen und ihre religionspolitische Propagandafunktion“.
Der Autor ist nach eigener Aussage von der Wiener Protestantismus-Ausstellung im Wien Museum geprägt worden, die er oft geführt hat, ebenso von seinen eigenen, offenbar tief recherchierten Stadtführungen. Er wählt fünf Sagen aus, die sich teilweise an Wiener Hauszeichen (bzw, an den Stephansdom) knüpfen und an denen er beweisen will, dass ihre ursprüngliche Bedeutung eine ganz andere war, als jene, die man ihr später gegeben hat.
Er findet überall religiösen Protestantismus, der im 19. Jahrhundert von kaisertreuen Schriftstellern (vor allem genannt wird Moritz Bergmann) umerzählt wurden, die die einstige Bedeutung durch eine politisch verharmlosende, katholisch gefällige Geschichte ersetzt haben.
Der „Stock im Eisen“, den man noch heute nicht weit vom Stephansdom sehen kann (ein mit Nägeln beschlagender Baumstumpf – wobei noch niemandem die evidente Nähe zu den afrikanischen Nagel-Fetischen aufgefallen ist), soll im 16. Jahrhundert ursprünglich von Handwerksburschen, die den „Täufern“ angehörten, stammen – weder Protestanten noch Katholiken, sondern Staatsverweigerer und damit besonders gefährlich. Schnell umgeschrieben in die typische Geschichte eines Teufelspaktes, bei dem der Mensch nicht gewinnen kann, was ganz im Sinn der Kirche war… Ob die Habsburger deshalb, wie der Autor vermutet, Bäume verstärkt als eines ihrer Herrschaftssymbole aufgestellt haben?
Der „Basilisk“, der als Plastik und gemalt heute noch auf dem Haus in der Schönlaterngasse 7 zu sehen ist, die angebliche Mischung aus Hahn und Kröte, wie es da heißt, aber wohl eine entfernte Erinnerung der Menschen an Drachen, soll laut dem Autor gleichfalls ein Protestsymbol gewesen sein – später zu „Teufelszeug“ verharmlost.
Dass eine Kuh (die „Kuh am Brett“ als Hauszeichen in der Bäckerstraße 12) für die Protestanten als Zeichen des Papstes galt, noch dazu an einem Brettspiel – das mag böse religiöse Satire gewesen sein, man verpackte es in eine harmlose Liebesgeschichte.
Nicht ganz so leicht politisch zu deuten ist die Sage von Hans Puchsbaum, dem Baumeister des unvollendet gebliebenen Nordturms von St. Stephan, aber sollte da ein echter Mord dahinter gesteckt haben, ließ sich auch hier ein Teufelspakt daraus machen.
Die letzte Geschichte ist dann der „Zahnwehherrgott“ an der Außenseite des Chors des Stephansdoms (er sieht wirklich so erbarmungswürdig aus, als hätte er Zahnweh), vom Autor mit Jan Hus und den tschechischen Trialismus-Bestrebungen in der Monarchie zusammen gebracht, aber in der landläufigen Überlieferung von der Gnade Christus’ erzählend, der liederliche Handwerksburschen, die echt bereuten, von ihrem Zahnweh befreit haben soll, was dem Menschendoktor nicht gelang…
Nun hat der Autor, selbst aufrecht-protestantisch, in Wiener Sagen einen anti-habsburgischen, anti-katholischen Kern gesucht und auch gefunden. Tatsache ist allerdings, dass es Theorien bleiben wie viele andere, die in einer mittlerweile reichen Interpretations-Schiene rund um Sagengut auftauchen. Beweisen kann er sie nicht. Dass das „Volk“ trickreich und mit Winkelzügen Widerstand kundgetan haben mag, ist allerdings auch nicht völlig auszuschließen…
Renate Wagner