Peter Michael Lingens
ZEITZEUGE EINES JAHRHUNDERTS
Eine Familiengeschichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin 575 Seiten, Böhlau Wien, 2023
Journalisten werden in Österreich nicht übermäßig populär, es sei denn, sie kämen in einer Oper vor wie Eduard Hanslick oder sie machten Zeitgeschichte wie Karl Kraus mit seiner „Fackel“. Vor vielen, vielen Jahrzehnten, als es noch eine „Runde der Chefredakteure“ im Fernsehen gab, waren die fraglichen Herren (die auch wirklich eindrucksvolle Persönlichkeiten waren) sehr bekannt, heute sind sie vergessen.
Die Macht der Journalisten ist kurzfristig und kurzlebig, hängt vom Prestige der Zeitung / Zeitschrift ab, für die sie tätig sind, und die wenigsten können sich wirklich lange Zeit im Sattel halten. Ein Beispiel für das Auf und Ab einer Karriere, die bis in Chefredakteurs-Höhen führte und einige Abstürze zu verzeichnen hatte, ist Peter Michael Lingens, dessen Namen man heute noch kennt, wenn er auch nur noch wöchentliche Wirtschafts-Glossen für den „Falter“ schreiben darf und im übrigen, wie die meisten „ehemaligen“ Journalisten ohne Medium auf einer eigenen Website die letzten Fans mit ihren Meinungen beglücken.
Verbunden ist sein Name mit der besten Zeit des „Profil“, bevor es wie heute in allem vorhersehbar wurde, was man darin liest. Man weiß, welche Stellung bezogen wird, wie argumentiert wird, wo man blind ist und wie sehr man von dem Bewusstsein „Wir sind die Guten und schlagt die Rechten tot“ erfüllt ist. Das war einmal besser und auch interessanter.
Peter Michael Lingens, geboren 1939, hat in seinem Leben viel unternommen, auch zahlreiche Bücher geschrieben. Noch keines war so persönlich wie das jüngste, das sich „Zeitzeuge eines Jahrhunderts“ nennt. Der Untertitel „Eine Familiengeschichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin“ jongliert mit einigen großen, wenn auch nicht (nehmen wir den, wenn auch in vielen Farben schillernden Kreisky einmal aus) eben sympathischen Gestalten. Kurz, Journalisten leben nicht unbedingt in guter Gesellschaft, da sie schließlich mit Politikern zu tun haben?
Das Titelbild des Buches zeigt neben einem markanten, weißhaarigen, weißbärtigen Altherrengesicht die Titelseiten von „Kurier“, „Profil“, „Standard“ und „Falter“, für Lingens die wichtigsten Journalisten-Stationen (wenn auch manche Leser die „Wochenpresse“/ „Wirtschaftswoche“ am meisten geschätzt haben mögen, in Zeiten, als Wochenzeitschriften noch umfang- wie inhaltsreich waren, was heute eher weniger der Fall ist).
Lingens ist in der Wolle gefärbt – durch seine Eltern, beide aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Allererste Anfänge bei der „Arbeiter Zeitung“ – wie tief der Antifaschismus in Peter Michael Lingens steckt, beweist er gleich mit den ersten Sätzen des Buches, wo er die Amerikaner nicht genug davor warnen kann, Ende 2024 wieder Donald Trump zu wählen, was für ihn ebenso eine „faschistische“ Wende bedeuten würde wie in Österreich, wenn tatsächlich bei den Herbstwahlen die FPÖ an die Macht käme…
Peter Michael Lingens war immer ein politischer Journalist, und als Ziel seines Buches erklärt er: „… zu zeigen, wie sehr Sozialismus in seiner großen Zeit eine bürgerliche Tugend gewesen ist.“ Der Neoliberalismus hingegen hat in seinen Augen alles zerstört. Doch was seine Warnung vor dem Faschismus betrifft – wer weiß? Vielleicht wird man in wenigen Jahren sagen: „Der Lingens hat es schon immer gewusst…“
Lingens ist Journalist genug, um zu wissen, wie sehr man Leser mit allzu langen Elogen langweilen kann. Sein Erinnerungsbuch, und es ist ein solches (und auch ein dickleibiges geworden) teilt er darum in 84 handliche Kapitel, die wiederum lesefreundlich unterteilt sind. Die Zwischentitel („Da ist der Worm drin“ oder „Piller the Killer“) entsprechen dem Journalismus-Gebot, die Leser neugierig zu halten. Dagegen ist absolut nichts einzuwenden. Sachlichkeit allein hat noch keinem geholfen. Dass Lingens für das, was er nun als persönliches Erleben schildert, auf Hekatomben eigener Artikel zurück greifen konnte, versteht sich. Und dramatisch genug ist es auch immer wieder.
Mit der Familie beginnt es ausführlich, vor allem mit der Mutter, die 1908 geborene Ella Reiner aus Wien, sozialisiert im „Roten Wien“ und politisch aktiv bis in die Fingerspitzen,. Lingens selbst hätte sich, wie er offen sagt, deren Jugendfreund, den jüdischen Physiker Victor Weisskopf, als Vater gewünscht (der rechtzeitig emigrierte und in den USA u..a. auch mit Oppenheimer zusammen arbeitete). Aber es wurde Kurt Lingens, der aus einer der reichsten und schwer katholischen Familien Düsseldorfs stammte (dass der Sohn nicht die goldenen Haare des Vaters geerbt hat, hat die Mutter bedauert). Kurt Lingens reagierte auf den Reichtum der Familie mit wütendem Widerstand. Im Krieg landeten er (auf Umwegen) und Ella (gleich) als politische Häftlinge im KZ.
Ella Lingens hat mit ihrem Sohn viel über Auschwitz gesprochen, stets betont, dass nur der, der es erlebt hat, ahnen kann, welche Hölle es bedeutete. Der Sohn hat es sich immer wieder zur publizistischen Aufgabe gemacht, dies zu vermitteln.
Als der Krieg zu Ende war, war Peter Michael sechs, und er erzählt, wie es in Memoiren üblich ist, viel von seiner Kindheit und Jugend, bis dann die entscheidende Frage auftaucht: „Warum denn nicht Journalist?“ Und das ist er auch geworden, gewissermaßen in allen Facetten des Berufs.
Ein bisschen Protektion braucht es immer – der junge Peter Michael schreibt einen Leserbrief über das verheerende intellektuelle Niveau der Bundesheer-Unteroffiziere, Mutter Ella zeigt den Brief ihrem Jugendfreund Oskar Pollak, der nun Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung“ ist, und dieser wittert den künftigen Journalisten. Der köpfelte schon in der AZ mitten in die ewigen, bis heute dauernden (und sicher nie endenden) Querelen der österreichischen Parteipolitik, die ihn ein Leben lang begleiten sollte, obwohl Lingens bald und stetig den Blick auch auf die Weltpolitik richtete.
Die Karriere des Peter Michael Lingens nachzuerzählen, ist nicht möglich, das muss man sich in Details geben (etwa sein Kopfsprung zwischen Kreisky und Wiesenthal). Tatsache ist, dass er immer zu den Auserwählten von Oscar Bronner zählte, als dieser erst das „Profil“, dann den „Standard“ gründete.
Als Epilog kann Lingens nur zugeben, dass allen Schwierigkeiten zum Trotz seine Generation es entschieden leichter hatte als die heutige. Was niemand bezweifeln würde. Es war eine andere Welt, in der er lebte, in der Einzelne weit bessere Möglichkeiten hatten. Und er hat viele davon genützt. Und erzählt an seiner Person ein Stück österreichischer Politik- und Zeitungsgeschichte.
Renate Wagner