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Peter Eigner: DIE WITTGENSTEINS

02.10.2023 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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Peter Eigner
DIE WITTGENSTEINS
GESCHICHTE EINER UNGLAUBLICH REICHEN FAMILIE
336 Seiten, Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria, 2023

Viele Mitglieder dieser Familie sind berühmt geworden, allerdings keiner so überbordend, so international wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (von dessen „Tractatus“ mancher den ersten Satz zitieren wird, ohne den Rest gelesen zu haben). Aber auch Bruder Paul ragte aus der Liste der Pianisten seiner Zeit hervor – denn wie viele von ihnen spielten schon (notgedrungen) mit einer Hand? Schwester Margaret ließ sich von Gustav Klimt malen (was bekanntlich ein Vermögen kostete) und ein Haus bauen, das es noch heute gibt. Und der umstrittene Vater Karl verdiente die sagenhaften Millionen für die Familie. Was nicht hieß, dass seine Kinder mit den goldenen Löffeln im Mund notgedrungen glücklich werden mussten … drei von Karls fünf Söhnen setzten ihrem Leben selbst ein Ende, eine schaurige Bilanz.

Autor der neuen Familiengeschichte (die Wittgensteins als Clan standen schon im Zentrum einiger Bücher) ist Peter Eigner, seines Zeichens Universitätsprofessor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit dem Forschungsschwerpunkt der Wirtschaftsgeschichte des Habsburger-Reichs. Damit liegt er bei den Wittgensteins goldrichtig und das kennzeichnet auch den Tenor seines Buchs. Man könnte die drei Generationen als eine Folge ebenso interessanter wie exzentrischer Charakterporträts gestalten. Aber es geht vor allem darum, wie das Wittgenstein’sche Geld gemacht und was dann daraus wurde.

Der Autor beginnt mit dem Mann, der als jüdischer Herz Meyer  1802 im hessischen Korbach geboren wurde – und als protestantischer Hermann Christian Wittgenstein 1878 in Wien starb, Als im Zuge der Napoleonischen Kriege sich die Juden Familiennamen geben mussten, wählte sein Vater Moses Meyer „Wittgenstein“ als Zusatz, weil er für die Adelsfamilie Sayn-Wittgenstein tätig war. Sein Sohn ließ das jüdische „Meyer“ (auch die Rothschilds hießen übrigens ursprünglich Meyer) ebenso zurück wie das ganze Judentum und seine Heimat.  Über Sachsen, wo er den Wollhandel der Familie in großem Stil betrieb, kam er nach Wien, die Heimat seiner Frau.

Dass man in Wien besser ohne die Last der jüdischen Herkunft voran kam, war ihm klar. Und wenn er mit Fanny Figdor auch eine Frau aus reichster jüdischer Familie geheiratet hatte, so war sie doch bereit gewesen, so wie er zu konverntieren. In Wien stellte Hermann Christian seine Geschäftstätigkeit breiter auf und handelte erfolgreich mit Immobilien.

Karl, das sechste der elf Kinder des Paares, der im Mittelpunkt des Buches steht, wollte vom Judentum absolut nichts mehr wissen. Erst die Nationalsozialisten machten dessen Kinder dann schmerzlich darauf aufmerksam, dass sie als „Volljuden“ galten und man ihnen deshalb so viel von ihrem Vermögen stahl wie nur möglich…

Es gibt von Karl Wittgenstein (1847-1913) ein ebenso charakteristisches wie berühmtes Foto, das ihn mit herausforderndem Blick stehend zeigt, die Beine gespreizt, die Arme in die Hüften gestützt, als wolle er jeden Augenblick losstürzen – ein Bild voll Kraft und auch Aggressivität. Der „Raubtierkapitalismus“ (in unserer Zeit wieder im Kommen) scheint in ihm verkörpert. Angesichts der Härte seines Vorgehens machte er sich nicht viele Freunde – aber Millionen.

Er war es, der aus den Wittgensteins „eine unglaublich reiche Familie“ machte, wie der Autor im Untertitel des Buches erklärt. Und weil „Wirtschaft“ eben das ist, was Autor Peter Eigner am meisten interessiert, widmet er auch ein Kapitel Wittgensteins Konkurrenz, den Rothschilds (gegen deren Vermögen allerdings niemand aufkam) und den Gutmanns (das Kohleimperium der Monarchie). Beide Familien hatten, im Gegensatz zu ihm, dem Judentum nicht abgeschworen und das Nobililtierungsangebot der Monarchie angenommen. Karl Wittgenstein fühlte sich aber  immer stark genug, mit den Rothschilds in Konkurrenz zu treten…

Es hatte wohl mit seinem Selbstvertrauen zu tun, das ihn auch in der Jugend nach Amerika „ausreißen“ ließ, wo er lernte, jede Arbeit anzunehmen, aber auch eine Menge Kenntnisse zu bieten hatte. Wieder in Wien „vazierte“ er durch Berufe, bis die Netzwerke griffen: Eine von Karls Schwestern war mit Karl Kupelwieser verheiratet (Sohn des Malers und Bruder des Brioni-Erschließers), der ihn in die Eisen- und Stahlindustrie vermittelte, wo Wittgensteins steiler Aufstieg begann, weil er so viel vom Handwerk wie von den Geschäften verstand – und auch die nötige Rücksichtslosigkeit mitbrachte.

Aber der Autor möchte Karl Wittgenstein, dessen Ruf bei der Mitwelt nicht der beste war und auch in der Nachwelt nicht eben glänzt, im Grunde verteidigen. Gewiß war er seiner Gattin Leopoldine, geborene Kallmus (jüdischer Herkunft, aber die Familie lange katholisch) ein herrischer Gatte und für seine neun Kinder (ein weiteres war bei der Geburt gestorben) ein „Übervater“, dessen Druck sich auch auf deren Persönlichkeiten auswirkte. Aber die guten Seiten, Karls Kunstsinn, sein Mäzenatentum, seine kompetente Liebe zur Musik (auch alle Kinder verstanden viel davon, spielten Instrumente), seine kluge Sammlertätigkeit zeigen, dass es nicht nur um Geldscheffeln und Macht ging, sondern auch andere Interessen walteten. Die gar verbrecherischen Züge, die man ihm nachsagt (a high-class crook nannte ihn ein früherer Biograph), kann der Autor – der Wittgenstein als hoch begabtes Kind seiner explodierten Gründerzeit  betrachtet  – nicht sehen.

Karl erlebte den Selbstmord zweier Söhne mit (Hans 1902, Rudi 1904), Kurt brachte sich 1918, fünf Jahre nach dem Tod des Vaters um. Es blieben die Söhne Paul, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor, und Ludwig, der vom finanziellen Erbe des Vaters nichts wissen wollte. Tochter Hermine und Tochter Helene überlebten die Nationalsozialistische Herrschaft durch hohe Zahlungen, Tochter Margaret war durch ihre Heirat mit dem New Yorker Fabrikanten Jerome Stonborough außerhalb der Reichweite.

Fast wehmütig erinnert sich der Autor im Nachwort an diese Familte, deren Reichtum „mit Schrecken“ verbunden war, einst immenser Besitz, von dem kaum etwas übrig geblieben ist (ihr Palais in der Argentinierstraße  –  in der Nähe, wo auch die Rothschilds ihr Palais hatten – wurde abgerissen), und man werde sich außer an Ludwig, der seine Rolle in der Geschichte der Philosophie einnimmt, vermutlich nicht mehr an die anderen Mitglieder dieser „schwierigen“ Familie erinnern.

Man hat beim Verlag Molden sehr eindrucksvolle  Gestaltungsmöglichkeiten für die Bücher gefunden, mit vielen, meist ganzseitigen Fotos, die passend in den Text eingestreut sind und immer wieder optische Schwerpunkte setzen.

Was das schöne Buch allerdings unbedingt gebraucht hätte, wäre angesichts der so weit verbreiteten Familie ein ausführlicher Stammbaum. Es sei als Wunsch an den Verlag für die nächste Auflage deponiert.

Renate Wagner

 

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