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Peter-André Alt: ERSTE SÄTZE DER WELTLITERATUR

28.06.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Peter-André Alt
Jemand musste Josef K. verleumdet haben
ERSTE SÄTZE DER WELTLITERATUR
UND WAS SIE UNS VERRATEN
270 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2020  

Der erste Satz. Der Leser ahnt es kaum, welche Probleme er dem Autor bereitet. Erste Sätze müssen Verführer sein. Sie müssen in dem Leser das Bedürfnis erwecken, weiter zu lesen. Das gilt übrigens auch für jeden Zeitungsartikel. Um wie viel mehr für jedes Werk der Literatur, das Ansprüche stellt – und trotzdem Reiz ausüben muss, sonst hält es seinen Leser nicht bei der Stange. Dieser erste Satz ist auf jeden Fall von gesteigerter Wichtigkeit…

Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, dessen voluminöse Biographien über Kafka und Schiller man mit Interesse gelesen hat, wendet sich nun diesen „ersten Sätzen der Weltliteratur“ zu und analysiert, „was sie uns verraten“. Kurz gesagt, unendlich viel – über den Autor, über die Zeit, in der das Werk entstanden ist, über die Intention, mit welcher auf den Leser zugegangen wird.

Die Möglichkeiten sind grenzenlos, wie nicht weniger als 249 Beispielsätze der Literatur veranschaulichen. Das ist ohne Übertreibung so spannend wie ein Kriminalroman, zeigt es doch, was Literatur will und kann – und das nicht trocken-professoral, sondern ungemein anschaulich. Und das, obwohl der Autor zu allen grundsätzlichen Überlegungen reichlich die literarische Theorie heranzieht.

Der Weg, den Alt ausschreitet, führt von der Antike, wo mit den ersten Sätzen noch die Götter und Musen angerufen werden, bis zu Kriminalromanen von heute, wo der Hinweis auf einen Kleiderhaufen an einem Eisenbahngleis Neugierde erzeugen soll. Man kann mit ersten Sätzen so gut wie alles machen. Den Leser direkt ansprechen. Vorgeben, dass man die Geschichte eines anderen berichtet, die einem selbst aus zweiter Hand zugespielt wurde (etwa, wenn man Unmoralisches erzählt und sich selbst absichern will). Man kann aber auch – wie es erst in späterer Zeit üblich wurde – „ungeschützt“ einsetzen, mitten in die Geschichte springen. Man kann den Leser neugierig machen, wie es Tolstoj bei „Anna Karenina“ so perfekt gelingt: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.“ Warum ist das spannend? Weil, wie Alt analysiert, das Unglück anderer viel mehr interessiert und viel breiter zu erzählen ist als das Glück…

Man kann den Leser verunsichern („All das hat sich mehr oder weniger zugetragen“, so beginnt „Schlachthof 5“ von Kurt Vonnegut), man kann einen Menschen vorstellen und zugleich geheimnisvoll sein (Melvilles geniales „Nennt mich Ismael“, womit „Moby Dick“ anhebt), man kann Orte und Zeiten charakterisieren oder auch nur andeuten („Den 20. ging Lenz durchs Gebirge“, sagt uns Georg Büchner über seinen Titelhelden), Stimmung schaffen („Ein grauer gedrungener Bau, nur vierunddreißig Stockwerke hoch“ führt in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ ein), Situationen formen („Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben“, heißt es zu Beginn der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz), während Thomas Mann am Anfang von „Der Tod in Venedig“ eine komplette Schilderung von Gustav Aschenbach liefert…

Man kann den Leser in unvermutete Situationen stoßen, die ihn a priori verblüffen (Doderer gelingt das in der „Strudlhofstiege“ perfekt), man kann raffiniert Spannung aufbauen. Alt, der eine Biographie über Kafka geschrieben hat, diesen Dichter also besonders gut kennt, hat dessen ersten Satz aus „Der Prozeß“ auch in den Titel des Buches genommen: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben…“ (bei Kafka hieß es noch „verläumdet“), womit sogleich die Stimmung des Ungewissen, aber auch Unbehaglichen erzeugt wird. Man kann auch mit Ironie verfahren, mit Absurdem, mit Kitsch. Alles, damit der Leser bei der Stange bleibt. Viele Schriftsteller haben (der Autor des Buches  zitiert einige) zugegeben, wie lange sie an ersten Sätzen „gebastelt“ und „gefeilt“ haben, auch Kafka, auch Patricia Highsmith.

Dabei fällt auch Formales auf – jene lapidaren ersten Sätze, die berühmt geworden sind, stehen neben Episteln, die einen ganzen Absatz füllen und den Leser sofort mit Information überborden.

Alt schafft es, nach jedem ersten Satz, den er zitiert, auf ungefähr der Länge einer halben Seite (manchmal mehr) ganz bemerkenswert eine Kurzanalyse des Werks zu liefern. Dabei muss er durchaus nicht immer ein Fan der Bücher sein, die er heranzieht. Er gesteht Tania Blixen für „Out of Africa“ zwar einen perfekten „Rückblicks“-Satz zu: „Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuß des Ngong-Gebirges.“ Dann allerdings wirft er ihr Afrika-Klischees, koloniale Selbstherrlichkeit, eine Mischung aus Arroganz und Sentimentalität vor – als hätte diese Frau, als sie 1937 ihr Buch schrieb, ahnen können, dass sie von einer moralisch überstrengen Nachwelt verurteilt wird, wo sie doch nur ein Kind ihrer Zeit war und die Dinge so sah, wie damals alle anderen auch…

Auch Margaret Mitchell kommt mit „Vom Winde verweht“ nicht so gut weg, auch wenn ihr erster Satz (nach Meinung vieler Leser) einfach genial ist: Denn „Scarlett O’Hara war nicht eigentlich schön zu nennen“ ist der perfekte Einstieg in die Persönlichkeit dieser Frau, zumal gleich darauf geschildert wird, wie sie die Tarleton-Zwillinge bezaubert – und wie sie es mit jedem Mann tun wird, der ihr über den Weg läuft.

„Vom Winde verweht“ hat Peter-André Alt in die „Kitsch-Kiste“ geschoben (mit einer großartigen Analyse über die Ausdrucksmöglichkeiten von Kitsch), nicht nur neben die Marlitt und Karl May, sondern auch neben Hermann Hesse, was dessen Liebhabern wohl das Herz im Leib umdrehen wird. Aber ist es nicht schön, wenn man als Leser immer wieder das Gefühl hat, mit dem Autor diskutieren oder gar streiten zu wollen?

Übrigens: Das Register hätte man sich doch lieber alphabetisch gewünscht als in der chronologischen Reihenfolge von Homer bis Paula Hawkins. Bei allen Vorzügen, die Literatur hier „Schritt für Schritt“ verfolgen zu können (wobei zwischen Ovid und Dante gut 1300 Jahre liegen), ist die Praktikabilität des Alphabets ja doch nicht zu schlagen…

Eines ist jedenfalls sicher: Man wird nach der Lektüre dieses Buches künftig den ersten Sätzen von allem, was man liest, besondere, gewissermaßen „geschärfte“ Beachtung schenken.

Renate Wagner

 

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