
Max Emmanuel Cencic (Siroe), Julia Lezhneva (Loadice), Juan Sancho als alter König Cosroe und Mary Ellen Nesi als Medarse (Foto: Athen Festival Juni 2014, Bruno de Lavenere/DECCA)
PARIS/VERSAILLES :
„SIROE, RE DI PERSIA“ von Hasse in der Hofoper – 28. XI. 2014
Wiederentdeckung eines verschollenen Werkes, nach Paris bald in Wien und in aller Welt

Johann Adolf HASSE
Wer kennt heute noch Johann Adolph Hasse, 1699 in Bergedorf bei Hamburg geboren und 1783 in Venedig gestorben? In den meisten Opernführern wird er nicht mal genannt, und außer in Dresden und Halle scheint er kaum irgendwo auf dem regulären Spielplan zu stehen. Dabei hat er mehr als 70 Opern komponiert, wovon 56 heute noch namentlich bekannt sind. In Dresden erinnert man sich seiner, weil er dort von 1733 bis 1763 dreißig Jahre lang mit großem Erfolg die Hofoper geleitet hat. Deswegen wurde er auch in ganz Europa „il caro Sassone“ (der liebe Saxe) genannt. Nach der Bombardierung Dresdens im Siebenjährigen Krieg, in der seine gesamten Partituren verbrannten, wich Hasse nach Wien aus, wo Maria-Theresia ihn mit großen „honneurs“ empfing. Hasse sprach fließend italienisch, hat in Neapel bei Scarlatti und Porpora studiert, besaß ab 1735 ein Haus in Venedig und nannte sich „Giovanni Adolfo“. Er heiratete eine der größten Sängerinnen seiner Zeit, Faustina Bordoni und war auch sehr gut befreundet mit dem Dichter Pietro Metastasio und komponierte mindestens 30 Opern nach seinen Libretti. Dieses ist auch wahrscheinlich der Grund, weswegen man Hasse kurz nach seinem Tode (fast) vergessen hat. Denn die klassische „Opera seria“ kam nach Glucks Opernreform und dem Verschwinden der Kastraten, die in ihr anscheinend so wunderbar glänzen konnten, vollkommen aus der Mode.
Es ist der Verdienst der Händel-Festspiele in Halle, dass im zwanzigsten Jahrhundert einige Werke von Hasse wieder ausgegraben wurden und der Verdienst von Max Emanuel Cencic, dass „Siroe“ nun wieder gespielt wird – zum ersten Mal nach zweihundert Jahren. Cencic, ursprünglich Solist bei den Wiener Sängerknaben und seit 2001 Countertenor, brachte Anfang dieses Jahres eine CD heraus mit „Welteinspielungen“ total vergessener Arien von Hasse („Rokoko“, bei Decca). Jetzt folgte die erste Aufnahme von „Siroe“ bei dem gleichen Label und eine Welttournee, die in Athen anfing und über Versailles weiter nach Amsterdam, Budapest, Moskau und Wien führt. Cencic hat alles in eigener Regie unternommen: die Wahl des Werkes, die „künstlerische Leitung“, die Besetzung, die gesamte Produktion (mit der in Wien ansässigen Parnassus Arts Productions), das Marketing, die Titelrolle und nun auch zum ersten Mal die Inszenierung. Nach heute gängigen Normen scheint das etwas viel, und „Understatement“ scheint auch nicht seine stärkste Seite zu sein. Doch das war auch nicht der Fall bei den großen Kastraten, die im achtzehnten Jahrhundert auf der Bühne in Versailles standen, mit Diamanten auf ihren Schuhschnallen, und die manchmal mehr Schmuck trugen als die französische Königin. In deren Fußstapfen will Cencic offensichtlich treten – und tut es mit Erfolg. Das Konzept von Parnassus Arts geht auf, und es entstand eine Aufführung, die musikalisch viele andere neuerliche Wiederentdeckungen in den Schatten stellt. So beklagten wir diesen Monat in Marseille, dass manche Sänger ihren so selten gespielten Rollen einfach nicht gerecht wurden/werden konnten. Davon war hier nicht die Rede, denn beinahe die ganze Besetzung hatte an der Platteneinspielung mitgewirkt.
Auch szenisch gab es Erfreuliches zu berichten. Cencic distanzierte sich als Regisseur im Programmheft vom heutigen Regietheater, mit dessen Vorliebe für „kahle Bühnen“ und „freudscher Interpretation“. Er sieht in Siroe „ein Märchen aus 1001 Nacht“ – und so ging er die Geschichte auch an. Das Libretto folgt dem Muster vieler Opern von Metastasio: eine verbotene Liebe in biblischen Zeiten an einem fernen Königshof, wo mindestens fünf oder sechs Personen gleichzeitig ganz unglücklich verliebt sind und nach einer komplizierten „exposition“ ungefähr alles tun, um die Geschichte noch komplizierter zu machen. Und nachdem viele Leute mit einem Messer oder einem Degen ganz furchtbare Dinge angekündigt haben, und wenn man gar nicht mehr weiß, wer nun der Verräter oder der Freund ist, wer sich selber oder sein Gegenüber ersticht, wer Mann oder Frau ist, und wer nun gestorben ist oder nur scheintot im Kerker liegt, geschieht die erlösende „Katastrophe“, in der die Erde bebt oder ein Volk sich erhebt. Dann vergibt der Vater im „lieto fine“ seinem Sohn und darf dieser die Prinzessin seiner Wahl heiraten. Bruno de Lavenère schuf eine zugleich märchenhafte und reisetaugliche Ausstattung, wunderbar beleuchtet von David Debrinay. Manchmal überschritt die Inszenierung die Kitsch-Grenze im indischen „Bollywood-Stil“, doch die Videos von Etienne Guiol – meist ein Schwächebekenntnis des Regisseurs – waren in diesem Fall gut in die Handlung eingegliedert. Und vor allem: sie folgten der Musik. Die Bühnenhandlung leitete einmal nicht von der Musik ab, sondern unterstützte sie. Endlich mal wieder ein Regisseur, der auch Noten lesen kann!
Max Emmanuel Cencic sang die Titelpartie mit der nötigen Bravour. Seine Stimme ist viel breiter und kräftiger als die mancher französischen Countertenöre, die regelmäßig auf dieser gleichen Bühne auftreten. So hat die Stimme von Philippe Jaroussky für unsere Ohren auf der Bühne etwas betont mädchenhaftes, was bei den damaligen Kastraten anscheinend überhaupt nicht der Fall war. Das waren, so die Überlieferung, „wirkliche Männer“, während Jaroussky vor Kurzem in einem Privat-Konzert in Paris einen berührend knabenhaften Cherubino sang. Cencic beherrscht als bester Sänger auf der Bühne problemlos die riesige Partie, die ursprünglich der Kastrat Farinelli gesungen hat. Neben ihm steht Julia Lezhneva als Loadice in der weiblichen Hauptrolle, die ursprünglich für die damals 19-jährige Elisabeth Teyber geschrieben wurde, eine Lieblingsschülerin des Komponisten und seiner Frau Faustina Bordoni, die im „Siroe“ von Händel (mit dem gleichen Libretto) die Rolle der Emira gesungen hatte. Wir gratulieren Julia Lezhneva zu ihrer klugen Rollenwahl, denn vor drei Jahren schien es plötzlich so, dass diese hochbegabte Sängerin in einer Sackgasse gelandet war. Kaum 19 Jahre alt, hatte der Dirigent Marc Minkowski sie bei einem Konzert in Warschau entdeckt und war so begeistert, dass er neun Monate später schon eine CD mit seltenen Rossini-Arien aufnahm, die der kaum zwanzigjährigen Sängerin alle Türen öffneten. Doch sie wählte auch Rollen, die einfach zu groß für sie waren und landete bei dem Concours Régine Crespin in Paris auf dem fast schon entwürdigenden letzten Platz. Damit wollte die durch Eva Wagner und Alexandra Pereira geleitete Jury der jungen Sängerin einen „ Denkzettel“ geben, den sie zum Glück gut gelesen hat. Lezhneva sagte viele Engagements ab und überdachte ihre viel zu schnell gestartete (und „gepushte“) Karriere noch einmal von vorne. In den beiden ersten Akten klang ihre Stimme jetzt vielleicht manchmal etwas hart, aber das ist natürlich bei einer 24-jährigen Interpretin mit wenig Bühnenerfahrung, die atemberaubend schnelle Tempi in den Koloraturen nahm. Ihre letzte Arie des Abends war so eindrucksvoll, dass die Vorstellung wegen des anhaltenden Applauses sogar kurz unterbrochen werden musste. Auf der CD singt Franco Fagioli den Medarse, den jüngeren, bösen Bruder des Siroe. In Versailles war er leider nicht dabei, und Mary Ellen Nesi übernahm die Rolle, die ursprünglich für den Kastraten Caffarelli geschrieben wurde. Nesi war die Einzige auf der Bühne, die ihrer Partie nicht ganz gerecht wurde (aber vielleicht hat sie auch nicht viel Vorbereitungszeit gehabt). Da war Roxana Constantinescu als Emira um einiges überzeugender, so wie Lauren Snouffer als Arasse und Juan Sancho als Cosroe.
Der junge griechische Dirigent George Petrou leitete mit Verve sein Ensemble Armonia Atenea, und man kann nur staunen, wie sie bei der aktuellen Situation in Athen – laut Presseberichten sollen die Musiker manchmal Wochen und Monate nicht bezahlt sein – so gut und diszipliniert musizieren können (auch auf beiden oben erwähnten CDs). Nur bei der Ouvertüre verpatzten die Holzbläser beinahe alle ihre Einsätze. Hatte man ihnen nur für die Ouvertüre irgendwelche unspielbaren historischen Flöten gegeben? Danach ging alles reibungslos. Aber einen kleinen Patzer muss es schon geben – sonst wäre es keine „Live-Performance“ mehr. Und wir freuen uns ja gerade, dass dieser vergessenen Oper nun nach zweihundert Jahren ein neues Leben eingehaucht wird. Und wir hoffen, dass noch einige andere Opern von Johann Adolph Hasse folgen werden. Denn er konnte wunderbare Melodien für große Sänger komponieren.
Waldemar Kamer, Paris
www.chateauversailles.fr und www.parnassus.at
bis zum Sommer 2015 auf Europatournee (am 21. April 2015 im Theater an der Wien)