Paris Opéra de Paris – Palais Garnier „HIPPOLYTE ET ARICIE“ 1.7.2012
Jean-Philippe Rameaus Opernerstling als akademisch philologisches Lehrstück
Andrea Hill (Diana), Jael Azzaretti (Amor). Fotografin: Agathe Poupeney
Unglaublich aber wahr: Mit 50 Jahren verfasst der legitime Nachfolger Lullys ganz in dessen Stil einen veritablen Operngeniestreich in 5 Akten samt Prolog. Auf ein Libretto des noch älteren Abbé Simon Joseph Pellegrin wird die Geschichte der gar unschuldigen Zuneigung Hippolytes zu Aricie im gar nicht so unschuldigen Rundherum erzählt. Da begehrt Phädra diesen ihren Stiefsohn Hippolyte bis zu ihrem eigenen Freitod. Hippolytes Vater Theseus verschwindet in die Unterwelt, um seinen Geliebten Pirithoos zu retten. Meeresmonster verschlingen vermeintlich ungehorsame Söhne, die auf Eingreifen der Götter wieder auftauchen. Und das alles bei Happy End würzig garniert mit einem Streit über die Vorherrschaft von Amor versus Beständigkeit, letztlich hat aber das Schicksal das letzte Wort in dieser Welt. Eigentlich haben bei Rameau die Götter schon abgedankt, die freundliche Natur in einer Art Arkadien Rousseaus des 5. Akts blüht im Morgentau der Aufklärung.
Wer wissen will, wie das etwa vor 269 Jahren Jahre anlässlich der Uraufführung in Paris ausgesehen haben mag, wolle sich die 2009 für Toulouse geschaffene, jetzt am Palais Garnier wieder aufgenommene Inszenierung des Ivan Alexandre ansehen. In ganz und gar barocken flach-floralen Bühnenprospekten, himmel- und höllenfahrenden Bühnenmaschinerien (Antoine Fontaine) und üppigen Kostümen (Jean-Daniel Vuillermoz) singen/tanzen (Choreographie Natalie van Parys) Solisten, Chor und Ballett ein faszinierend verschlüsseltes musikalisches Universum. Der Versuch, einem heutigen Publikum die versteckte philosophische Bedeutung der Musik und der einander folgenden Harmonien näher bringen zu wollen, schlägt jedoch gründlich fehl. Der Musik-Theoretiker Rameau hat dem musikalischen Genie Rameau hier wohl ein Schnippchen geschlagen. Es bleibt das Gefühl des Luxus, einem einzigartigen musikalischen Ereignis gefolgt zu sein. Und der Sehnsucht nach mehr Ironie, Lesbarkeit und – Verzeihung – heutigem Erleben auf der Bühne, was uns diese edel-kalte Produktion schuldig bleibt.
Manuel Numez Camelino (Merkur), Francois Lis (Pluto) und Stéphane Degout (Theseus) und die drei Parzen. Fotografin: Agathe Poupeney
Rameau, der von sich selbst behauptete, auch ein „Telefonbuch“ in spannende Musik verwandeln zu können, im Zeitalter Voltaires – Himmel schau herunter – ein klares Bekenner von Prima la Musica, verwöhnt den Hörer mit harmonisch schier Unerhörtem. „Mit teuflischer Präzision übersetzt Rameau Gefühle in Musik, die das Textbuch nicht einmal andeutet“, erklärt der Regisseur die Figur der Phädra. Wobei die grüne Natur mit ihren Hirten, Matrosen und Nachtigallen Rameau hörbar weniger inspiriert als die Seelenschwärze des Euripides oder Racine, verkörpert in Phädra und Theseus. Die Pariser Oper hat auch hier ihre zwei größten Besetzungsatouts vorzuweisen. Die Phädra der Sarah Connolly singt ihre drei mächtig kontrastierenden Soloszenen mit aller weiblichen Suggestion, luxuriös stimmschön, alle Emotionen in einen Sturzbach an Klangfarben transponierend. Nicht weniger faszinierend der Theseus des Stéphane Degout. Ein Kavaliersbariton der Sonderklasse auf dem Gipfel seiner immensen Möglichkeiten. Einer der am hellsten leuchtenden Sterne der Pariser Oper. Nach Pelleas und Wolfram zeigt dieser große Gesangskünstler, dass auch Barockmusik ohne stilistische Einbußen dramatisch saftig interpretiert werden kann. Das Protagonistenpaar fällt da ein wenig ab, wobei nicht klar ist, inwieweit aufgrund der vom Komponisten verordneten Schablonenhaftigkeit der Charaktere oder des den Interpreten zufallenden Mangels an Bühnen-Temperament. Letztendlich erheben Topi Lehtipuu und Anne-Catherine Gillet das mustergültige Paar Hippolyte und Aricie stimmschön zu leuchtenden Symbolen für Treue und Tugend. Der in Australien geborene finnische Lehtipuu bringt neben einer interessanten Charakterstimme auch alle optischen Qualitäten mit, die die unglaublichen weiblichen Volten um ihn (Phädra, Diana, Aricie) glaubhaft machen. Das Duell zwischen Diana und Amor geht nach der Heftigkeit des Schlussapplaus zu schließen zugunsten des Amor der Jael Azzaretti (in Wien war sie schon als Julia zu hören) aus, wenngleich es der Göttin der Jagd der Andrea Hill im Halbmond auf und ab schwebend vorbehalten ist, das finale Glück der Aufklärung zu verheißen. Die Götter Merkur und Pluton/Jupiter finden in Manuel Nunez Camelino und François Lis ihre menschliche Gestalt. In weiteren Rollen sind Salomé Haller (Oenone), Marc Mauillon (Tisiphone) und Aurélia Legay (Großpriesterin) zu hören. Die drei Parzen des Nicholas Mulroy, Aimery Lefévre und Jérôme Varnier künden im Trio dunkles Schicksal. Ein Sonderlob gebührt dem Chor du Concert d‘Astrée (Einstudierung Xavier Ribes) für seine rhythmische Präzision, die Klarheit der Artikulation und die fokussierte Frische des Klangs.
Keine tragédie lyrique ohne Tanz. Die Choreographin van Parys beruft sich, um die Divertissements mit dem passenden Bewegungsvokabular zu versehen, auf die berühmten Tanzbücher des Raoul-Auger Feuillet (L‘Art d‘écire la danse) und des Pierre Rameau (Le Maitre à danser). Schön ist, dass die Tanzszenen nicht isoliert als erratische Blöcke in der Aktion stehen, sondern voll ins dramatische Geschehen integriert sind, dieses durchdringen und bereichern. Die Tänzerinnen und Tänzer der Pariser Oper übertragen die dramatische Spannung in formvollendeten expressiven Ausdruck. Barockes Bewegungstheater der Extra-Klasse.
Das Orchestre du Concert d‘Astrée wird von Emmanuelle Haim geleitet. Rein schlagtechnisch gesehen ist die streitbare Haim eine wild armschwingende Amazone mit wehendem Haar, deren unorthodoxe Temporückungen mir nicht nachvollziehbar sind. Schließlich kann sie jedoch mit der ihr eigenen Energie und Exzentrik die komplexe Partitur mit Spannung und Leben erfüllen. Lully und Rameau liegen ihr eindeutig besser als Monteverdi. Der überschäumende Jubel des Publikums scheint ihr Recht zugeben. Allein: Wir Kritiker dürfen/müssen manchmal etwas beckmesserischer sein als das Publikum, wenngleich das Publikum mit Recht auch auf uns Kritiker pfeifen darf, wenn eine künstlerische Darbietung gefallen hat.
Die Pariser Melomanen können jedenfalls zufrieden sein, eine solche Opernrarität so exquisit serviert zu bekommen. Ich war ganz glücklich, die vielleicht schönste Oper meines frz. Barock-Lieblingskomponisten überhaupt auf einer Bühne erlebt zu haben. Das Wiener Publikum harrt ja auch noch der Entdeckung dieses so wichtigen Komponisten. Natürlich hatte Lully in Philippe Quinault den besseren Librettisten. Aber keiner seiner Zeitgenossen hat eine sinnlichere, aufregendere, erfindungsreichere, wohl auch zynischere Musik geschrieben als Rameau. Vielleicht eine Empfehlung für einen weiteren Versuch, Barockmusik an der Wiener Staatsoper heimisch zu machen?
Dr. Ingobert Waltenberger