PARIS / Théâtre Marigny
„LES DEUX AVEUGLES“ von Jacques Offenbach
– 19 1 2019 Von Waldemar Kamer – Paris
Viele Raritäten in Paris im Rahmen des Offenbach-Jahres des Palazzetto Bru Zane
Das Palazzetto Bru Zane – das wir inzwischen nicht mehr vorzustellen brauchen – feiert den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach (am 20. Juni 1819 in Köln geboren) mit vielen kleinen und großen Überraschungen. Nach der „großen romantischen Oper in vier Akten“ „Die Rheinnixen“ (in der nun zum ersten Mal gespielten französischen Fassung „Les Fées du Rhin“) in Tours und danach in Biel und der vollkommen verschollenen und nun erstmals wieder ausgegrabenen opéra-bouffe „Barkouf ou un chien au pouvoir“ in Straßburg gibt es nun unbekannte kleine bouffoneries musicales in Paris. Alexandre Dratwicki, der wissenschaftliche Direktor des Palazzetto, erklärt uns, dass mehr als zwei Drittel des gesamten französischen Opernrepertoires des 19. Jahrhunderts aus kleinen Opern und Operetten in einem Akt bestand, die oft als „Vorspeisen“ dienten, um dem gesamten Opernabend die gewünschte Länge von 3-4 Stunden zu geben. Da sich unser „Opern-Menü“ seitdem vollkommen verändert hat, sind diese Werke nun größtenteils verschollen. Außer den Einaktern, die in den kleinen Theatern als „Hauptspeise“ serviert wurden.
„Les deux aveugles“ (auf Deutsch „die beiden Blinden“) ist eine Parodie auf die damals (und auch heute noch) in Paris weit verbreiteten Bettler, die fantasievoll immer wieder neue Verkleidungen und Rührgeschichten erfinden. In diesem Fall sind es der Trombonist Patachon und der Gitarrist Giraffier. Vom Namen her: Dick wie eine Kartoffel und lang wie eine Giraffe (lange bevor „Laurel & Hardy“ erfunden wurden). Beide streiten wie Waschweiber um den besten Bettel-Platz auf dem Pont-Neuf und erfinden dabei haarsträubende Geschichten, warum sie blind geworden sind. Patachon berichtet, wie er angeblich von einem Pariser Regenschirmfabrikanten nach „Kon-Kon-stan-stan-tiopele“ geschickt wurde, dort wegen einer Revolution vertrieben wurde, unter widrigsten Umständen die Beresina überqueren musste, dort durch Krokodile angegriffen wurde, die sich anscheinend besonders für Pariser Regenschirme der allerletzten Mode interessierten. Beim Anblick der zerfetzten Schirme übermannte ihn eine solch eine starke Rührung, dass er das Augenlicht verlor… Das alles wird mit unzähligen kleinen Anspielungen und Witzen erzählt, wobei alles was in Paris um 1855 als hoch und heilig galt durch den Kakao gezogen wird: die tragische Überquerung von Napoléons „grande armée“ der Beresina, der alte blinde General Bélisaire auf dem berühmten Bild von David etc. Bei den großen Philosophen angekommen, erklärt er, dass Descartes hauptsächlich ein Kartenspieler war („des cartes“). Es wird also mehr gesprochen und gewitzelt als gesungen, beide Figuren haben jeweils zwei Arien, die sie zum Teil mit den eigenen Instrumenten begleiten. Die Regisseurin Lola Kirchner inszenierte dies als eine musikalische Clownsnummer, in der Raphaël Brémard (Patachon) und Flannan Obé (Giraffier) mit beinahe jedem Satz das sehr gut gelaunte Publikum zum Lachen brachten. Musikalisch gibt es wenig zu berichten, denn die vier Arien sind ein früher Offenbach – deutlich erkennbar, aber nicht so unverwechselbar genial wie in seinen späteren Werken.
Deshalb wurde diesem halbstündigen Einakter gleich noch ein weiterer angehängt, mit einem musikalischen Inhalt: „Le compositeur toqué“ (auf Deutsch „Der verrückte Komponist“) von Hervé, von dem das Palazzetto Bru Zane vor kurzem die Vaudeville-opérette „Mam’zelle Nitouche“ ausgegraben hat. Der „romantische Komponist“ Fignolet (wieder Raphaël Brémard – „fignoler“ heißt im Künstlerjargon: immer noch überall weitere Änderungen/Verzierungen anbringen) sitzt am Klavier (nun sehen wir endlich mal den Pianisten des Abends Christophe Manien), um uns seine neue Symphonie zu erklären (so wie Berlioz das allererste Programmheft der Musikgeschichte geschrieben hat, um seine „Symphonie fantastique“ dem Publikum zu erläutern). Doch sein Diener Séraphin – fabelhaft gespielt und gesungen durch Flannan Obé – verheddert sich in den Verzierungen und Kadenzen, versteht nicht warum in einer Symphonie in Moll 99 Dur-Zeichen stehen und macht aus einer „note filée“ ein Kotelett (ein „filet“).
Ein „Amüsement für Insider“, könnte man denken. Doch der Saal, in dem sicherlich nicht nur Komponisten und Musik-Spezialisten befanden, hat wieder bei jedem falschen Ton von Séraphin gelacht, genauso wie die Kinder, die neben mir saßen, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Oper waren. Sie meinten danach, dass sie alles verstanden hatten und konnten erstaunlich viele Witze nacherzählen – Beweis dafür, dass man diese verschollenen Einakter mühelos einem heutigen französischen Publikum als amüsantes „Hors d’oeuvre“ anbieten kann. Für meine deutschen Kollegen im Saal, die kein französisch sprechen, war es offensichtlich schwieriger. Denn der spezifisch französische „esprit“ lässt sich genauso wenig ins Deutsche übersetzen, wie viele Begriffe des deutschen Denkens ins Französische (das Begriffe wie „Heimat“, „Sehnsucht“ oder selbst „Gemütlichkeit“ und „Schweigen“ nicht kennt).
Das Festival „Les Opéras Bouffes Bru Zane“ im Théâtre Marigny wird im März fortgesetzt mit „Le retour d’Ulysse“ von Hervé, im Mai mit „On demande une femme de chambre“ von Robert Planquette, gekoppelt mit „Chanteuse par amour“ von Paul Henrion und im Juni mit „Sauvons la caisse“ von Charles Lecocq, zusammen mit „Faust et Marguerite“ von Frédéric Barbier. Im Juni folgen dann als „Hauptspeise“ die großen Opéra Bouffes von Offenbach „Maître Péronilla“ im Théâtre des Champs-Elysées und „Madame Favart“ in der Opéra Comique (beides vollkommen vergessene Spätwerke aus 1878). Wir sind schon gespannt!
Waldemar Kamer
Palazzetto Bru Zane : www.bru-zane.com