Paris „LA DIDONE“ Théâtre des Champs Elysées, 18.4.2012
Dido und Aeneas einmal nicht von Henry Purcell: Barockes Welttheater von Francesco Busenello (Libretto) und Pietro Francesco Cavalli (Musik) durch die „schicke“ Pariser Brille des 21. Jahrhunderts
In einer Ko-Produktion mit dem Théâtre de Caen und Les Théâtres de la Ville de Luxemburg hat das TCE in Paris eine seiner wenigen szenischen Produktionen in dieser Saison Cavallis Melodrama La Didone in einem Prolog und drei Akten gewidmet. Ein mutiges und wichtiges Unterfangen, macht es doch hörbar, dass die Oper in nur 40 Jahren des Bestehens der Gattung zu einem universellen Gesamtkunstwerk geworden ist. Antike Geschichten sind nur noch der Handlungs-Rahmen, aus dem ein Librettist vom Schlage eines Busenello (hat auch das Buch zu Monteverdis L’incoronazione di Poppea geschrieben!) jenseits von Dogmen und Tradition etwas vollkommen zeitgenössisch Tragico-Burleskes kreiert. So lässt Busenello etwa im Unterschied zu Virgil am Ende der Oper nach einem verunglückten Selbstmordversuch Dido den zuerst verschmähten König Jarbas heiraten.
Worum geht es in dieser Oper? Es gibt keine wirkliche Geschichte, sondern eher nebeneinander gestellte Episoden um Krieg, Tod, Verlust, Suche nach Heimat und Liebe, Wahnsinn, Delirien, um launische Götter in einer ganz und gar polaren Welt derer „da oben, unbeteiligte und zynische Beobachter von denen da unten, die ausbaden müssen, was von
oben im Namen von ,göttlichen‘, sich aber ganz menschlich äußernden Rivalitäten diktiert wird.“ (Micaela v. Marcard). Klingt uns doch ziemlich vertraut bei einem kleinen Blick auf den aktuellen Zustand der Welt.
Kleine Abschweifung: Dieser Cavalli, mit bürgerlichen Namen Caletti-Bruni, Vorbild für Lully und Alessandro Scarlatti, ist wesentlich am Abenteuer der Gründung des Teatro San Cassiano 1637 in Venedig beteiligt. Ein wichtiges Datum der Operngeschichte, markiert es
doch die Geburt der modernen Opernhäuser, wo Eintritt gezahlt wird und keinem Fürsten oder Monarchen auf Einladung gehuldigt wird. Dem Publikum sollte die Welt so gezeigt werden, wie sie „auf der Straße“ empfunden wird. Mann/Frau weint und lacht und erfreut sich wohl hämisch an einer klug und frech travestierten Realität, die im normalen Leben unter der
Peitsche der Zensur tabu bleiben muss.
Im TCE führen uns der von der Comédie-Francaise kommende 34-jährige Regisseur Clément Hervieu-Léger, der damit seine erste Opernregie verantwortet, und sein Ausstattungs-, Kostüm- und Beleuchtungsteam Eric Ruf, Caroline de Vivaise und Bertrand Coudere in eine gar düstere Welt in braungrauschwarzer Öde. Eine Van Dyck nachempfundene Vision der Ruinen Trojas und des aufstrebenden Karthagos mit einem omnipräsenten toten Hirsch auf der Bühne. Natürlich ist Europa ein grauenhaftes
Schlachtfeld, der Dreißigjährige Krieg im Kampf um dem einzig wahren Glauben schafft auch im Jahr der Uraufführung der Oper 1641 noch Leichenberge, Gemetzel und Brandschatzung, der schlussendlich ein Drittel der mitteleuropäischen Bevölkerung zum Opfer fallen wird.
Und auch die Vokal-Ästhetik des allgegenwärtigen Lamento scheint dem apokalyptischen Chiaroscuro gerecht zu werden. Wäre da nicht eine unendlich reich ornamentierte, alle Emotionen abschattierende, das Wort ausdeutende Instrumentalsprache à la Monteverdi. Und wie beim venezianischen Großmeister erschließt sich die Welt auch bei seinem Schüler Cavalli deklamatorisch in Spiegelungen, Schatten, Gleichnissen, aber auch in derb-grotesken, grell erdigen Szenen als Kontrapunkt zu den hochpathetischen Klagen. Die ganze Welt soll Stimme und Bild werden. Das Gleichgewicht bei allen Mehrdeutigkeiten und Übergängen zwischen Schmerz und Tod, aber auch Zynismus und Lächerlichkeit muss gewahrt bleiben. In der optischen Umsetzung findet das alles keine Entsprechung. Das gälte wohl auch für die musikalische Leitung durch den in diesem Genre verdienten William Christie, der selbst vom Cembalo-Continuo aus mit einem 17-köpfigen Ensemble aus Les Arts Florissants dem Publikum ein gar fein ziseliertes Fresko serviert. Aber zu „schüchtern“, zu verhalten und farblos ist sein Konzept, um die Spannung der über drei Stunden langen Aufführung halten zu können. So „kitzeln“ lediglich einzelne Glanzlichter, Sternschnuppen und vor allem im 2. und 3. Akt instrumentaler, manchmal auch vokaler Sternenstaub in einer letztlich optisch und dramaturgisch zu nüchtern-ideenlosen Inszenierung das willige Auge und Ohr. Man sollte Oper eben nicht einem jung pensionierten Schauspieler anvertrauen, wenn das Ergebnis auf eine konzertante Aufführung hinausläuft.
Was die Sänger betrifft, so erlaubt – wie bei William Christie leider oft – ein stilistisch unausgewogenes, teils schlecht vorbereitetes Vokalensemble nur im Ansatz blutvolles, barockes Welttheater. 14 Künstler und Künstlerinnen in 34 Rollen und unzähligen Szenen deklamieren, flüstern, klagen, stemmen sich mit Schreien gegen Schicksal und unbarmherzige Götter, manchmal aber auch gegen das Geschehen im Orchestergraben. Besondere Erwähnung verdienen jedoch Kassandra im 1. Akt (eine Entdeckung Katherine Watson) und ihre Mutter Hekuba (prachtvoll der Alt von Maria Streijffert), die ausdrucksstark das Schicksal Trojas beklagen. Es bleibt aber alleine der Dido der Anna Bonibatibus vorbehalten, uneingeschränkt das gesamte Spektrum des golddurchwirkten venezianischen Gesangsbrokats mit dramatisch modulationsfähiger Stimme in den Theater-Raum zu zaubern. Die Italienerin erreicht so ein Höchst-Niveau, das sich ohne weiteres an der Interpretation der gigantischen Yvonne Kenny 1998 bei den Schwetzinger Festspielen messen kann. Obwohl Dido Aeneas ihr ganzes Herz und Königreich zu Füssen legt, macht er sich aus dem Staub, um wie Siegfried neue Abenteuer zu suchen. Kresimir Spicer ist dieser Held Aeneas auf ewiger Flucht. Er erleidet mit großem, aber unausgeglichenem Tenor das Drama um den Tod seiner Frau Kreusa (Tehila Nini Goldstein), lässt auf Wunsch seiner Mutter Venus (Claire Debono) Troja und auf Befehl Jupiters (Francisco Javier Borda) das Herz Didos in Trümmern zurück, um wie es die Legende will, Rom gründen zu können. Als Max im Freischütz mag ich ihn mir gern vorstellen, als Interpret von Barockmusik gefällt mir Spicer trotz schöner Lyrismen weniger. Als unsterblich unglücklich, am Ende glücklich in Dido verliebter lybischer König Jarbas wartet der spanische Countertenor Xavier Sabata mit einer ausdruckstarken Charakterstudie rund um Wahnsinn, Delirium, (gestopptem) Selbstmord und erotischer Farce auf. Nicht nur als Figur berührend, sondern auch vokal liefert er die zweitbeste Leistung des Abends. Zu erwähnen ist, dass ein Gutteil der gesamten Besetzung aus dem Christie‘schen Projekt „Jardin des Voix“ hervorgegangen ist, einer Art Akademie für junge Sänger und Sängerinnen von Barockmusik. Wenn das Ziel dieser Ausbildung sein soll, eine Art Einheitstimbre zu entwickeln, so ist das Konzept aufgegangen. Einigermaßen positiv erwähnen möchte ich noch den Bass Nicolas Rivenq als Anchises und den Counter mit Wiener Sängerknabenvergangenheit Terry Wey als Ascanio.
Insgesamt eine verdienstvolle Initiative des TCE, die jedoch dem Genie des Komponisten Cavalli trotz finaler Begeisterung des Pariser Publikums nicht gerecht werden konnte.
Ingobert Waltenberger